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Wincent

Tim sah mich prüfend an und legte dann seine eine Hand auf meine.
„Es wird dir gut tun. Am Anfang merkst du das nicht sofort, aber dann wirst du es spüren. Und das eine Jahr ist schneller rum, als du jetzt denkst", sagte er.
„Danke", erwiderte ich..
„Ich wäre dann soweit", kam es von Anna, die im Türrahmen aufgetaucht war.
„Ich lass euch mal kurz alleine", sagte ich und stand auf.
„Wincent?"
Ich drehte mich zu Tim um, der ebenfalls aufgestanden war.
„Pass gut auf meine Tochter auf und kommt bald wieder", sagte er und zog mich in eine feste Umarmung.
Kurz war ich überrascht, aber dann ließ ich es zu. Irgendwie war es ein gutes Gefühl und ein Beweis dafür, dass er mir vertraute.
Ich ließ die beiden dann noch einen Moment alleine und zog schon einmal meine Schuhe an.
Fritz wuselte immer um meine Füße herum und so brauchte ich länger als normalerweise. Ich blieb dann direkt auf dem Fußboden sitzen und kraulte ihn.
„Ihr zwei habt euch ja auch gefunden, oder?", lachte Tim und erst da sah ich auf.
Anna zog gerade ihre Schuhe an und so stand ich auf, was Fritz mit einem beleidigten Blick kommentierte.
„Sorry Kumpel", sagte ich und streichelte ihm noch einmal über den Kopf.
„Verwöhn meinen Hund nicht so", erwiderte Anna.
„Ich mach gar nichts."
Sie lächelte. „Schon klar."
„Tschüss Papa und bis ganz bald." Anna ging zu ihrem Vater und dieser nahm sie fest in den Arm.
„Tschüss mein Schatz. Meld dich, wenn du wieder in Berlin bist oder du etwas brauchst."
„Mach ich. Versprochen."
„Hast du alles?", fragte ich Anna.
„Ja." Sie nahm einen Rucksack und setzte ihn auf. „Nimmst du Fritz?"
„Sehr gerne." Ich leinte ihn an, was gar nicht so leicht war, da er fröhlich herum sprang.
Er bekam von Tim noch einige Streicheleinheiten und nach einer letzten Abschiedsrunde machten Anna, Fritz und ich uns auf den Weg nach unten.
Die Fahrt zu meinem Hotel verlief ganz entspannt. Zum Glück war Marco noch nicht da, sodass Anna und ich erst einmal in Ruhe auf mein Zimmer gingen.
„Willst du ins Restaurant gehen oder hier essen?", fragte ich Anna.
„Lieber hier", antwortete sie.
„Okay. Dann mach's dir bequem, ich kümmere mich darum."
Ich ließ Anna kurz mit Fritz alleine und ging nach unten. Die Auswahl hier im Hotel war ganz gut und so bestellte ich einige Kleinigkeiten, die wir gut mit den Fingern essen konnten. Es würde aufs Zimmer gebracht werden, weswegen ich wieder nach oben ging.
„Hey Anna, alles klar?", fragte ich.
„Ja. Danke, dass ich hier sein darf."
„Sehr gerne." Und das meinte ich genau so. „Was machen wir bis das Essen da ist?"
„Ich hätte Memorie in meinem Rucksack", antwortete Anna.
„Klingt gut. Aber ich vermute, das ist nicht so mein Spiel", lachte ich.
„Werden wir sehen."
Anna holte die Karten heraus und ich räumte das Bettzeug ans Kopfende. So hatten wir am Fußende eine freir Fläche zum Spielen.
„Soll ich mischen?", fragte ich.
„Wenn du nicht schummelst, ja."
„Ich schummle niemals", widersprach ich, nahm die Karten und mischte sie durch.
„Richtig hinlegen kanst du", sagte ich und Anna legte sie richtig hin. Sie war schnell, also deutlich geübt.
Das konnte ja etwas werden. Wann hatte ich das letzte Mal Memorie gespielt? Als Kind vielleicht.
„Fang an", sagte ich und Anna drehte die ersten beiden Karten um.
Das erste Bild war ausgerechnet eins von mir mit Bierflasche. Das musste mal im Studio entstanden sein. Auf dem zweiten Bild war Benni bei einem Gitarrensolo zu sehen. Die Aufnahme war noch nicht so alt, deswegen erkannte ich es sofort. Doch für Anna war das natürlich so gar nicht interessant. Sie brauchte nur die untere Kante der Karten. Fasziniert sah ich zu, wie sie über die Punkte tastete.
„Okay. Du bist", sagte sie schließlich und drehte die Karten wieder um.
Ich erwischte mich, auf dem Klavier stehend, mit Manu, der zu mir hoch sah. Und als zweite Karte hatte ich einen etwas unvorteilhaft getroffenen Kevin, der am Rechner saß und arbeitete.
Wo kamen denn die ganzen Bilder her? Manche kannte ich nicht einmal oder konnte mich nicht daran erinnern.
Ich wartete bis Anna auch diese Karten gelesen hatte und drehte sie dann wieder um.
So ging es eine ganze Weile hin und her und ich entdeckte einige echt witzige Fotos. Anna war ziemlich gut in diesem Spiel, das musste ich zugeben. Das spornte mich aber umso mehr an, mir möglichst viele Karten zu merken.
Als es an der Zimmertür klopfte, pausierten wir kurz und ich ging zur Tür.
„Ihre Bestellung", vermeldete ein Mitarbeiter des Hotels und schob einen kleinen Wagen ins Zimmer.
„Danke", erwiderte ich und er verschwand wieder.
Ich schloss die Tür wieder und inspizierte das Essen. Es sah echt gut aus und davon würden wir definitiv satt werden.
„Komm Anna, Abendessen."
Sie sah mich nur traurig an und mein Herz zog sich zusammen.
„Du musst etwas essen. Bitte."
„Ich hab aber keinen Hunger."
Ich dachte angestrengt nach. Irgendwie musste ich sie zum Essen bringen. Sonst würde sie ganz schnell wieder in der Magersucht landen und das wollte sie nicht.
„Okay, ich schlag dir einen Deal vor", sagte ich schließlich und setzte mich wieder auf das Bett.
Den Wagen stellte ich neben mir ab, sodass ich gut rankam, ohne aufstehen zu müssen.
„Welchen?" Anna klang etwas skeptisch.
„Wir spielen weiter und immer, wenn man ein Pärchen aufgedeckt hat, gibt es ein Happen Essen. Das sind alles nur kleine Snacks. Stell dir das wie die Schokolade vor."
Gut, das sah für mich dann echt schlecht aus, aber egal. Ich aß einfach den Rest auf.
„Ich weiß nicht."
„Komm schon. Und wehe, du spielst absichtlich schlechter. Das zählt nicht", erwiderte ich.
„Okay, wir versuchen es. Aber keine Garantie."
„Du kannst das", beruhigte ich sie.
Dann drehte ich meine zwei Karten um und natürlich passten sie nicht zusammen.
Anna hingegen hatte direkt zwei gleiche Karten, worüber sie allerdings nicht so begeistert wirkte.
„Wincent, ich weiß nicht, ob ich das kann", sagte sie leise.
Ich stand von meinem Platz auf und schob den Wagen auf die andere Seite des Bettes. Dann setzte ich mich neben Anna und zog sie erst einmal in eine feste Umarmung.
„Ich weiß, dass du das kannst", murmelte ich leise. „Versuch es einfach. Es kann nichts passieren, okay?"
„Okay", kam eine leise Antwort.
„Worauf hast du Lust? Ach, das könnte ein guter Anfang sein. Ein Stücken Käse und eine Weintraube."
„Ich liebe diese Spieße", antwortete sie und lächelte leicht.
Dennoch entging mir ihre Unsicherheit nicht.
Ich zog den Spieß raus und hatte auf meiner Hand nun das Käsestück und die Weintraube liegen.
„Bereit?", fragte ich und Anna nickte zaghaft.
„Käse oder Weintraube?"
„Immer erst Käse."
„Okay. Hand auf."
Ich nahm das Käsestück zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand und legte es auf Annas Hand ab. Sie zögerte, aber als ich ihr noch einmal beruhigend zuredete, aß sie den Käse tatsächlich auf.
Mit angehaltenem Atem wartete ich ab und beobachtete sie.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now