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Annalena

Mein Handy klingelte und ich nahm den Anruf der unbekannten Nummer an. Ich wusste es, weil sonst der Name angesagt werden würde.
„Bergmann?", meldete ich mich, so wie mein Vater es mir beigebracht hatte.
„Anna? Hier ist Silke", kam es von der anderen Seite.
„Silke, das ist ja eine Überraschung."
„Ja, vielleicht. Wie geht's dir?"
„Ganz gut", antwortete ich ehrlich. „Warum rufst du denn an? Ich bin noch am Arbeiten."
„Oh, ich will gar nicht lange stören. Was machst du nächsten Samstag?", fragte Silke.
„Noch nichts, soweit ich weiß. Wieso?"
„Ich bräuchte da deine Hilfe. Du erinnerst dich an den Ball für die ganzen Sponsoren und alles?"
„Ja."
„Luke sollte dieses Jahr den Eröffnungstanz machen. Allerdings ist seine Partnerin verletzt und wir brauchen jemanden, der einspringen kann", erzählte sie mir.
„Und? Du hast doch ein ganzes Team von Tänzerinnen", erwiderte ich verwirrt.
„Das stimmt. Aber die haben alle Training und... du harmonierst doch perfekt mit Luke. Das habt ihr in jeder Tanzstunde bewiesen."
„Silke, das ist über zehn Jahre her. Ich tanze gar nicht mehr."
„Den Rumba konntest du schon immer im Schlaf. Bitte, Anna. Luke würde sich echt freuen, mit dir die Eröffnung zu machen. Ich hab ihm auch mal deine Nummer gegeben, dann könnt ihr euch verabreden. Du würdest uns allen sehr helfen."
„Ich weiß nicht. Immerhin habe ich hier in Berlin einen Job", warf ich ein.
„Luke hat hier Pause, also könntet ihr auch in Berlin trainieren. Und der Ball ist auf einem Samstag. Du könntest Sonntag dann zurück nach Hause fahren. Wir kümmern uns um alles. Bitte", flehte Silke.
„Ich denke drüber nach", sagte ich, obwohl meine Entscheidung eigentlich schon feststand.
„Danke. Du bist ein Schatz. Dann halte ich dich nicht länger ab. War schön mit dir zu quatschen und ich würde mich freuen, wenn wir uns in Hamburg sehen."
„Mal schauen", erwiderte ich.
„Bis dann, Anna."
„Tschau, Silke."
Ich legte das Handy weg und versuchte, den Ball zu verdrängen. Zumindest für den Rest der Arbeitszeit. Auf dem Weg nach Hause fiel es mir aber wieder ein. Dieser Ball war das Event, von dem alle damals geträumt hatten. Es war mit eine der größten Ehren dort tanzen zu dürfen. Auf die Bühne im Musical schafften es viele aus der Schule, aber ich kannte niemanden, der jemals diesen Ball eröffnet hatte. Und ich war immer dabei, denn immerhin arbeitete mein Vater ja dort.
Ich schloss die Haustür auf und machte mich dann mit Fritz auf den Weg nach oben. Seltsamerweise fing er auf den letzten Stunden an, schneller zu laufen. Das konnte nur eins heißen: Wincent war da.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schloss ich also die Wohnung auf und ließ Fritz Leine los, denn nun war er definitiv nicht mehr zu stoppen. Ich hätte eifersüchtig sein können, dass mein Hund so vernarrt in Wincent war, aber ich konnte es einfach sehr gut nachvollziehen. Und es machte mich noch glücklicher, dass Wincent Fritz genauso liebte.

Wincent

„Hallo, mein Schatz", begrüßte ich Anna, nachdem Fritz einige Streicheleinheiten abgefasst und ich ihn von seiner Leine befreit hatte.
„Hey", antwortete sie und ich gab ihr einen kurzen Kuss zur Begrüßung.
„Wie war dein Tag?", fragte ich, während wir ins Wohnzimmer gingen und es uns auf der Couch bequem machten.
„Ganz gut."
„Höre ich da ein aber?"
„Ich hab einen Anruf aus Hamburg bekommen", erzählte sie.
„Von deinem Vater?"
„Ne. Silke, meiner alten Tanzlehrerin."
„Und was wollte sie?", fragte ich neugierig.
Anna erzählte von der Anfrage und auch, was sie beschäftigte. Ich konnte es ein wenig nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Doch in meinem Kopf bildete sich gleichzeitig auch eine Idee.
„Und was wäre, wenn wir zusammen nach Hamburg fahren? Also Freitag nach deinem Feierabend los nach Hemer, nach der Show dann nach Hamburg und Sonntag zurück. Dein Vater freut sich ganz bestimmt, wenn wir uns vor Weihnachten nochmal sehen", schlug ich ihr also vor.
„Ehrlich?" Sie sah mich überrascht an.
„Klar. Hamburg ist schön und wenn ich darf, begleite ich sehr gerne. Dann kann ich den Profis mal zuschauen, wie das Tanzen richtig geht."
„Ich bin absolut kein Profi", konterte sie direkt. „Aber du darfst sehr gerne mitkommen. Ich bitte sogar darum."
„Dann machen wir das doch. Ich weiß, dass du das kannst."
Wir kuschelten noch ein wenig auf der Couch und ich erzählte Anna von meinem Tag und was die nächsten Wochen so kam. Ein Anruf unterbrach uns und ich ließ Anna kurz alleine. Scheinbar ging es um diesen Auftritt in Hamburg und da musste ich echt nicht zuhören.
Während der nächsten zwei Wochen, lief ständig der gleiche Song in Annas Wohnung, aber das war okay. Ich konnte ihr absolut nicht helfen, also ertrug ich das Lied einfach und kümmerte mich um alles andere. Einkaufen, kochen oder so tun als ob, aufräumen, all die Dinge, auf die ich normalerweise keine Lust hatte. Doch jetzt war das meine einzige Möglichkeit, Anna zu helfen. Immer wieder sah ich ihr zu und war echt beeindruckt. Also ich konnte das absolut nicht beurteilen, aber so als Laie fand ich es sehr gut. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Anna sich ein wenig zu sehr unter Druck setzte, aber jedes Mal betonte sie, wie wichtig dieser Ball war und dass Luke ein Profi war. Sie wollte sich nicht blamieren und das konnte ich auch verstehen. Dennoch zwang ich sie immer wieder zu Pausen, die sie sonst sicherlich vergaß.
In der Nacht von Freitag auf Samstag, die ziemlich kurz war, schlief Anna sehr unruhig, aber ich schaffte es glücklicherweise, sie wieder runter zu bringen. Das Bett in ihrem alten Kinderzimmer war nicht wirklich groß, doch ich fand es gut. Anna kuschelte sich ganz eng an meine Brust und gegen fünf Uhr schliefen wir dann endgültig ein.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich wach werden. Ich bewegte mich vorsichtig und flüsterte ein ‚Herein'.
„Guten Morgen", kam es von Tim, der seinen Kopf durch die Tür streckte.
„Moin", antwortete ich.
„Kaffee?", wollte er wissen und ich nickte.
Ganz sanft löste ich mich von Anna, was gar nicht so einfach war, und schlüpfte dann schnell in ein Shirt. So ging ich zu Tim in die Küche, der mir kurz darauf eine Tasse hinstellte.
„Danke", antwortete ich.
„Wie war die Nacht?", erkundigte er sich.
„Unruhig. Ich glaube, sie ist ziemlich nervös, obwohl sie das gar nicht sein muss. Anna ist echt gut, also soweit ich das als Nichttänzer beurteilen kann."
„Als kleines Mädchen hat sie immer von diesem Ball geträumt", verriet mir Tim. „Sie wollte um jeden Preis einmal die Eröffnung tanzen."
„Aber?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now