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Wincent

Ich verbrachte den Tag mit meiner kleinen Schwester und meiner Mum. Wir machten einen langen Spaziergang am Strand, kochten gemeinsam und redeten einfach über alles. Natürlich checkte ich zwischendurch immer mal meine Nachrichten, aber von Anna kam nichts mehr. Wahrscheinlich war sie auf der Arbeit oder wurde von Lara belagert. Vielleicht auch beides.
„Hey Winnie. Du bist dran", riss Shay mich aus meinen Gedanken. „Du träumst heute so viel und bist gar nicht bei der Sache."
„Sorry", murmelte ich und bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
Ich war viel zu selten Zuhause und verbrachte Zeit mit meiner Mum und meiner Schwester. Und irgendwie hatte ich sonst immer den Job im Kopf. Jetzt wollte ich einmal zum Entspannen nach Hause kommen und schaffte kein ‚Mensch ärgere dich nicht'-Spiel, ohne abgelenkt zu sein.
„Alles gut?", wollte nun auch meine Mum von mir wissen.
Das Klingeln eines Telefons ersparte mir eine Antwort, aber es war leider nicht meins. Stattdessen entschuldigte Shay sich und verschwand mit dem Handy am Ohr in ihr Zimmer.
„Was ist los, Großer? Ich seh dir doch an der Nasenspitze an, dass dich etwas beschäftigt." Meine Mum schaute mich abwartend an.
„Ich weiß doch auch nicht. Irgendwie hab ich ein ungutes Gefühl im Bauch. Ich kann das gar nicht so erklären...", fing ich dann doch an, denn irgendwie musste ich mein ganzes Gedankenchaos ordnen.
„Wieso hast du dieses Gefühl?"
„Weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist Anna ein wenig anders drauf und ich glaube, sie ist alleine in Berlin. Also mit ihrem Hund, aber sie meinte, sie ist häufig müde. Wahrscheinlich macht sie nicht ganz so viel mit ihrer besten Freundin, wenn sie nicht fit ist. Es ist... irgendwie alles ganz kompliziert und seltsam."
„Hey, mach dich nicht so fertig." Meine Mum legte mir eine Hand auf die Schulter. „Manchmal gibt es so Phasen. Aber wenn ihr füreinander da seid, dann schafft ihr das."
„Ich will ja für sie da sein, aber..."
„Ich weiß."
„Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da etwas nicht stimmt. Obwohl sie sagt, dass es nur Müdigkeit ist", versuchte ich meiner Mum zu erklären, was in mir vorging.
„Ruf sie doch einfach an", schlug sie vor und ließ mich dann kurz alleine.
Ich atmete tief durch und wählte Annas Nummer, die inzwischen sogar schon auf Kurzwahl hinterlegt war. Ich wartete und wartete, doch sie ging nicht ran. Frustriert legte ich das Handy zur Seite und dachte nach.
„Ich mach noch einen kurzen Spaziergang!", rief ich meiner Mum zu und verschwand dann mit dem Handy und meinem Hausschlüssel in der Tasche nach draußen.
Ich lief einfach los und rief nach fünf Minuten Anna noch einmal an. Doch dieses Mal hatte ich sofort die Mailbox. Mein ungutes Gefühl verstärkte sich und meine Sorge stieg sehr hoch. Das war doch nicht mehr normal.
Ich scrollte durch meine Kontakte und klickte dann auf ‚anrufen'. Bitte geh ran, flehte ich innerlich.
„Was los?"
„Mats. Du bist doch in Berlin, oder?"
„Ja. Wieso?"
„Sag mal, kannst du zu der Adresse fahren, die ich dir schicke und nachschauen? Irgendwas stimmt bei Anna nicht."
„Wince..."
„Bitte", flehte ich. „Sie ist irgendwie seit einigen Tagen müde, meldet sich kaum und jetzt ist sie gar nicht mehr erreichbar, obwohl wir telefonieren wollten. Du musst mir bitte helfen."
„Okay. Ich mach's. Weil du es bist und weil ich Anna mag", gab Mats nach.
„Du bist ein Held. Tausend Dank."

Annalena

Ich schlich mich ins Bad, obwohl niemand hier war. Dennoch bewegte ich mich ganz leise durch die Wohnung. Seit meiner Rückkehr mit Fritz hatte ich mich nicht mehr aus dem Bett bewegt. Sobald ich aufstehen wollte, begann mein Herz zu rasen und ich verkroch mich wieder unter der Decke.
Jetzt konnte ich kurz aufstehen, aber unsicher war ich trotzdem. Vom Badezimmer ging ich kurz in die Küche und nahm mir eine neue Wasserflasche. So schnell es ging, verkroch ich mich anschließend wieder ins Bett. Dass ich mich in meiner eigenen Wohnung schon bewegte, als wäre ich ein Einbrecher, gab mir einen weiteren Stich ins Herz. Ich musste hier irgendwie weg. Aber andererseits traute ich mich nicht nach draußen. Ein Teufelskreis. Und ich mittendrin.
Ich versuchte, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken und mich bewusst auf meine Atmung zu konzentrieren. Doch das Klingeln meines Handys brachte mich wieder zurück und ich zuckte ängstlich zusammen. Schnell schaltete ich es aus und verbannte es in die Nachttischschublade. Da ich nun gar keine Beschäftigung mehr hatte, wurden die Gedanken wieder lauter. Also stand ich doch noch einmal auf und tapste ins Wohnzimmer. Irgendwo musste hier doch... Ah, hier. Ich zog meinen alten CD-Player heraus und fischte auf gut Glück noch einige CDs aus dem Schrank. Mit meiner Beute ging ich ins Schlafzimmer zurück und baute den Player auf meinem Nachttisch auf. Dann legte ich eine CD ein und wartete. Tatsächlich kam kurze Zeit später Musik. Es waren zwar ganz einfacher Kinderlieder, aber das störte mich nicht. Vielleicht brachten sie mich ja ein wenig runter. Immerhin hatte ich mit meinem Vater und Steffi zusammen eine sehr tolle Kindheit. Manches davon vermisste ich gerade sehr.

Wincent

„Und?", fragte ich Mats direkt, nachdem ich den Anruf angenommen hatte.
„Wo wohnt sie denn? Das hast du mir nämlich nicht verraten."
„Wo bist du?"
„Vor dem Haus, von dem du die Adresse geschickt hast."
„Ähm..." Ich dachte kurz nach. „Dritte Etage, ganz... links das Fenster."
„Da ist stockdunkel, Wince."
Ich sah kurz auf meine Uhr. „Anna schläft um 21:30 Uhr aber noch nicht. Bitte versuch es trotzdem."
„Na gut."
Ich hörte Mats Schritte und dann wartete ich. Beziehungsweise warteten wir.
„Versuch mal nochmal", sagte ich nach zwei Minuten.
„Ey Wince, ich will deine Freundin nicht wecken. Hat das nicht Zeit bis morgen? Vielleicht ist sie ausnahmsweise mal früher eingeschlafen. Kann doch sein."
Mein ungutes Gefühl verstärkte sich zwar, aber ich gab dennoch nach. Mats versprach mir, morgen nochmal bei Anna vorbei zu schauen.
„Ansonsten, Mats. Lara hat vielleicht auch einek Zweitschlüssel. Hoffe ich zumindest. Die Adresse des Ladens schicke ich dir, okay?"
„Okay. Aber nur, wenn Lara auch nichts weiß. Ich tu das hier ein wenig ungern", antwortete er.
„Ich weiß. Ich bin dir sehr dankbar, dass du es dennoch tust. Ich komme auch so schnell wie möglich nach Berlin."

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now