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Wincent

„Mats, ich spring schnell unter die Dusche und dann pack ich zusammen. In zwanzig Minuten geht es los."
Ich kam gerade in Osterode von der Bühne und war noch bis obenhin vollgepumpt mit Adrenalin. Gleichzeitig erfüllte mich Vorfreude, denn heute Nacht konnte ich endlich wieder mit Anna im Arm schlafen.
Normalerweise ließ ich mir Zeit beim Duschen, um wieder runter zu kommen, aber das war heute keine Option. Ich wusch nur den Schweiß runter und zog mir dann frische Sachen an. Jogginghose und ein simples Shirt reichten bis zu Anna. Anschließend durchsuchte ich den Backstage nach meinen Sachen, die natürlich wieder überall verstreut lagen.
„Mats!", brüllte ich, als mein Rucksack endlich gepackt war.
„Was ist denn mit dir heute los?", fragte Manu mich.
„Ich muss nach Hause. Wo ist denn Mats?", fragte ich meinen Pianisten ungeduldig.
„Der dreht nochmal seine Runde. Du kennst ihn doch. Ist alles okay bei dir?" Manu sah mich skeptisch an.
„Ja. Alles gut."
„Wince, chill mal." Er legte mir eine Hand auf den Arm. „Bist du sicher, dass du so fahren kannst?"
„Ja, mir geht's gut. Ich will nur nach Berlin und das so schnell wie möglich."
Meine Jungs hatte ich noch nicht wirklich eingeweiht, dass ich wieder in festen Händen war. Dafür gab es noch keine passende Gelegenheit und irgendwie wollte ich das auch noch ein bisschen für mich behalten. Ja, sie wussten sonst auch alles, aber es war eben die erste Sache, die wieder so wirklich ernst war. Anna wollte ich nie wieder missen.
„Wince, du kannst mal ein bisschen runterkommen", sagte Mats und kam seelenruhig auf mich zu. „Und die fünf Minuten, dich von allen zu verabschieden hast du jetzt auch noch."
„Du weißt, dass ich direkt nach der Show los wollte", erwiderte ich und sah ihn ernst an.
„Sie wird eh schlafen, also bleib mal auf dem Boden." Mats sah mich streng an und eigentlich hatte er auch Recht.
„Wince, was verschweigst du?", mischte sich Manu wieder ein.
„Du hast es keinem erzählt?", fragte Mats überrascht. „Ich dachte, du wolltest sie mitnehmen. Wie soll das denn gehen?"
„Darüber will ich jetzt nicht nachdenken", beendete ich das Thema. „Können wir bitte einfach los?", flehte ich Mats schon fast an.
„Okay, aber du verabschiedest dich erst. Wenigstens von Anna und Amelie so richtig."
Ich sprintete los und machte mich auf die Suche nach meiner Managerin und meiner besten Freundin. Sie packten gerade die Sachen vom Merchstand ein.
„Hey Wince. Was gibt's?", fragte Amelie, die mich zuerst bemerkte.
„Ich... wollte mich nur verabschieden. Mats und ich fahren jetzt los nach Berlin. Wir sehen uns ja dann in Kassel wieder", rattere ich runter.
„Alles gut bei dir?" Amelie sah mich fragend an.
„Ja."
„Okay, wenn du meinst. Dann genieß deine freien Tage und wir sehen uns in Kassel." Sie umarmte mich fest.
„Tschau, Wince. Und pass auf dich auf." Anna nahm mich ebenfalls kurz in den Arm.
„Danke, ihr beiden. Bis dann."
Ich drehte mich um und lief wieder in Richtung Auto.
„Tschüss Leute! Baut keinen Scheiß bis zur nächsten Show!", brüllte ich auf dem Weg durch den Backstage.
Jetzt konnte Mats mir nicht vorwerfen, dass ich mich nicht verabschiedet hatte.

Annalena

Ich checkte noch ein letztes Mal die Uhrzeit, aber noch immer müsste Wincent auf der Bühne stehen. Ich war wieder in meiner eigenen Wohnung, was bisher ganz gut ging. Lara hatte zum Glück nicht gefragt, warum ich eine Nacht bei ihr schlafen und tagsüber trotz Krankschreibung mit zur Arbeit kommen wollte. Ich meinte nur, dass ich nicht gut alleine sein konnte und das hatte sie akzeptiert. Vielleicht hatte Wincent Recht und es war wirklich nicht so schwer.
Mit Fritz war ich schon draußen und wusste nichts mehr mit mir anzufangen. Ich wollte nur, dass Wincent nach Hause kam. Doch das dauerte noch mindestens sieben Stunden. Ich machte mir ein Bad und ließ mir enorm viel Zeit. Dann putzte ich Zähne, zog meine Schlafsachen an und kuschelte mich ins Bett. Mit Wincents Teddy im Arm schaltete ich mir noch eine Folge von Mats Podcast ‚Quatsch mit Majo' an und hoffte, wach zu bleiben, bis mein Freund kam. Doch viel bekam ich nicht mehr mit, denn meine Augen fielen einfach zu. Wieder wach wurde ich, als Fritz aufstand und mit seinen Pfoten schnell über den Boden lief. Als er dann auch noch ganz kurz bellte, war ich hellwach. Ich setzte mich auf und lauschte. Ganz sanft hörte ich Schritte auf dem Boden und Fritz Pfoten.
„Hey. Sorry, ich wollte dich nicht wecken", murmelte Wincent.
„Alles gut", erwiderte ich. „Hab eh nicht gut geschlafen."
„Ich bin ja jetzt da. Leg dich schon hin, ich geh nur kurz ins Bad", erwiderte er.
Wenige Minuten später legte er sich zu mir und zog mich in seine Arme. Ich schloss meine Augen, atmete seinen Duft ein und tauchte ins Land der Träume ein.
Am nächsten Morgen schliefen wir beide lange. Wincent war scheinbar ziemlich fertig von den Shows und der Fahrerei. Und ich hatte auch noch genug Schlafdefizite aus der letzten Woche. So kam es, dass wir erst zum Mittag aufstanden. Wincent bestellte eine Pizza, da wir beide nicht wirklich viel Hunger hatten und zu faul waren, etwas zu kochen. Während wir warteten ging ich kurz eine Runde mit Fritz. Er bekam dann auch noch sein, inzwischen ja Mittagessen, als wir zurück waren. Die Pizza kam dann auch kurz danach, sodass wir alle drei in der Küche waren und aßen. Es herrschte angenehme Stille, die lediglich durch Fritz Schmatzen unterbrochen wurde. Oder Wincents Fluchen, weil etwas von der Pizza fiel oder er kleckerte.
Als wir satt waren, ging Wincent sich schnell umziehen, bevor wir uns auf die Couch kuschelten. Heute war so ein richtiger Tag zum Chillen.
„Sollen wir mal nach einem Film suchen und das ausprobieren? Gibt ja auch welche mit Audiodeskription", schlug Wincent vor.
„Ich hab das noch nie ausprobiert", gab ich zu.
„Ich auch nicht. Also, bereit etwas Neues zu wagen", fragte er.
„Hab ich doch mit dir schon", konterte ich.
„Man kann nicht oft genug springen."
„Okay. Aber nichts Anspruchsvolles bitte."
„Disney?"
„Ja."
Wincent werkelte eine Weile und dann kam er wieder zu mir. Ich kuschelte mich direkt an ihn und er legte einen Arm um mich.
„Ich will das auch mal erleben. Den Film kenne ich selbst noch nicht, aber ich schau mal, wie das mit geschlossenen Augen ist", verkündete er schließlich.
„Sicher? Du kannst ihn dir auch anschauen."
„Kann ich ja immer noch wann anders machen. Wir wollten doch beide etwas Neues probieren", erinnerte er mich.
„Okay."

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now