92

136 13 8
                                    

Wincent

„Sind... sind die von dir?", fragte Anna ungläubig.
„Ja."
„Wann...?"
„Im Februar", verriet ich ihr.
„Wow. Und was machst du damit?"
„Am ersten Dezember kommt das Weihnachtsalbum. Fünfzehn neue Songs. Aber vorher wird es schon drei Singles geben, denke ich."
Anna schien nicht mehr zu wissen, was sie antworten sollte. Ich sah kurz zu Mats, der die Musik genauso sehr zu mögen schien wie Anna und ich.
„Die sind echt gut geworden", meinte er.
„Danke."
„Können... wir erst alles anhören und dann spielen?"
„Klar." Ich zog Anna in meine Arme und wir saßen einfach zu dritt auf der Couch und lauschten den Klängen meines ersten Weihnachtsalbums.
Irgendwann begann ich leise mitzusingen, denn ich mochte die Lieder echt gerne. Es war einfach etwas Anderes als ein normales Deutsch-Pop-Album. Diese Songs erinnerten mich einfach an die schönste Zeit des Jahres. Wo ich ankommen und endlich wieder nur Wincent sein konnte. Mir fiel auf, dass ich solche Moment seit ich Anna kannte, immer mal wieder hatte. Also lag es vielleicht gar nicht nur an der Weihnachtszeit. Als ich hier so mit meiner Freundin im Arm saß und es sich jetzt schon ein wenig wie Weihnachten anfühlte, kam mir eine Idee. Philipp hatte bestimmt nichts gegen einen weiteren Song für das Album und da es noch nirgendwo angekündigt war, hatte ich noch ein wenig Zeit, den zu schreiben.
Als die ersten Töne von ‚Weihnachten allein' kamen, musste ich ein wenig schlucken. Der Song bedeutete mir fast am meisten und gleichzeitig war es mit ‚Nur kurz vorbei' der schwerste gewesen. Anna schien zu merken, dass es mir nicht ganz so leicht fiel, den Song zu hören, denn sie griff nach meiner Hand, die auf ihrem Bauch lag, und drückte sie. Diese Frau war einfach der Wahnsinn. Wie machte sie das immer? Ihr selbst ging ich nicht wirklich gut, aber sie war dennoch für mich da. Das hatte ich doch gar nicht verdient. Aber sie hätte dafür einen Orden verdient. Oder wenigstens einen Song. Das musste ich nachher direkt mal Philipp schreiben. Vielleicht konnten wir nach der Tour ja nochmal eine Studiosession machen. Ob ich nun den ganzen Tag dann hier in Annas Wohnung oder im Studio in Berlin war, nahm sich dann auch nicht wirklich etwas. Anna würde absehbar ja wahrscheinlich eh wieder arbeiten gehen, wenn die Therapie gut lief.
Die nächsten Lieder waren wieder positiver und es fühlte sich für mich immer mehr an wie Weihnachten. Der Duft von Vanille, Kerzenwachs, Bratapfel und Zimt lag in der Luft und mit Anna im Arm Weihnachtslieder hören war einfach unbeschreiblich. Wie ein kleines erstes Wunder.
„Hey, der Song gerade war richtig cool. Wie heißt der?", wollte Mats wissen.
Ich dachte kurz nach, denn in Songtiteln war ich richtig schlecht. „Das war... ‚Bist du bereit'."
„Können wir den nochmal hören?", fragte Anna.
„Natürlich. Dafür muss ich nur kurz..." Ich musste den Satz nicht beenden, denn Anna stand schon auf und so konnte ich zu meinem Handy gehen.

Annalena

Normalerweise war ich vor Ende November nicht in Weihnachtsstimmung, aber dieses Jahr schien eine Ausnahme zu sein. Die neuen Songs waren echt cool und irgendwie hätte jetzt auch schon Dezember sein können.
„Kommt. Wenn schon Weihnachtsstimmung, dann richtig", forderte Wincent uns auf und zog
mich hoch.
„Was hast du vor?", lachte ich.
„Feiern natürlich", antwortete er.
„Ich dachte, du kannst nicht tanzen."
„Kann ich auch nicht", erwiderte er. „Aber hier sind wir doch unter uns."
„Ich kann auch nicht tanzen", warf Mats ein.
„Ich aber."
„Was? Woher?", wollte Wincent wissen.
„Ich bin quasi im Musical aufgewachsen. Da kommt man dann um Tanzstunden nicht herum", erklärte ich.
„Na dann kannst du uns ja etwas beibringen", schlug Mats vor.
„Oder wir vergessen das kurz und haben einfach nur Spaß", erwiderte Wincent.
„Du faule Socke", konterte Mats.
„Wir können ja beides machen", schlichtete ich.
„Aber erst Party und dann suchen wir einen ruhigeren Song, okay?"
„Wince, es heißt doch ‚erst die Arbeit, dann das Vergnügen'. Nicht andersherum", mischte sich Mats ein.
Ich musste schmunzeln. „Als ob Wincent sich jemals an das hält, was alle anderen machen."
„Auch wieder wahr", stimmte Mats mir zu. „Also erst Party."
Wincents Begeisterung war deutlich zu spüren, als er die Anlage ein wenig lauter drehte und dann begann ‚Bist du bereit' noch einmal von vorne. Zu den Klängen dieses wirklich schönen Weihnachtsliedes tanzten wir einfach durchs Wohnzimmer und hatten Spaß. Zumindest klang es so und ich spürte es auch. Zum ersten Mal seit knapp einer Woche fühlte ich mich wieder lebendig. Wincent nahm irgendwann meine Hand und drehte mich im Kreis. Adrenalin raste durch meinen Körper und zusammen mit Endorphinen war es eine lebensbejahende Mischung. Ich wollte, dass das nie wieder vorbei ging. So wollte ich mich immer fühlen. Es war ein bisschen wie fliegen plus der Adrenalinkick von Achterbahnen.
Als der Song wieder von vorne begann, Wincent hatte offenbar auf Dauerschleife gestellt, erinnerte ihn Mats an die Abmachung mit der Tanzstunde. Etwas widerwillig gab mein Freund nach, obwohl ich mir schon vorstellen konnte, dass er Spaß dran hatte.
Ich hatte lange nicht mehr getanzt, aber die Grundschritte sollten noch drin sein.
„Okay, welches Lied brauchen wir?", wollte Wincent wissen.
„Kommt drauf an, was du lernen willst. Also ‚Bist du bereit' wäre ein Viervierteltakt. Da kann man am besten Rumba drauf tanzen. Für Walzer bräuchten wir einen Dreivierteltakt", erklärte ich.
„Ich habe keine Ahnung", gab Wincent zu und ich musste schmunzeln, denn immerhin war er der Musiker.
„Was willst du denn tanzen? Rumba oder Walzer?"
„Ähm..."
„Weil ‚Bist du bereit' gerade so schön ist, fangen wir doch einfach mit Rumba an", schlug Mats vor.
„Okay", stimmte Wincent zu.
„Dann fangen wir mit dem Grundschritt an. Mats, mach mal bitte die Musik ein wenig leiser", bat ich ihn. „Wir machen das für den Anfang langsamer und mit zählen."
Mats kam meiner Bitte nach und ich lief einmal im Kreis, um zu schauen, wie viel Platz wir hatten. Doch es war ausreichend, denn beide Tänze brauchten nicht so viel und außer dem Sofa und dem Couchtisch standen in meinem Wohnzimmer kaum Möbel. Das war ziemlich gut für mich und auch für spontane Tanzstunden.
„Komm her, Wince. Das ist wirklich ganz leicht." Ich streckte ihm meine Hand hin und er kam meiner Aufforderung nach.
„Jetzt muss deine rechte Hand auf mein Schulterblatt", erklärte ich ihm. „Und die andere bleibt in meiner und der Arm wird gestreckt. Schön gerade bleiben und das musst du dir merken. So ist die Grundhaltung."
„Sieht gut aus", kommentierte Mats.
„Okay. Hab ich", sagte Wincent und wirkte komplett ruhig und konzentriert, was mich ein wenig überraschte.
Doch scheinbar wollte er es wirklich lernen und das freute mich. Es war jetzt nicht mein Lieblingstanz, aber die Musik war dafür umso besser.
„Gut. Der Anfang ist für dich einfach nur mit dem linken Fuß einen kleinen Schritt nach vorne."
Ich nahm meinen rechten Fuß nach hinten, sodass er Platz hatte. Das klappte schon einmal.
„So und jetzt das Gleiche mit dem anderen Fuß, als würdest du normal laufen", erklärte ich weiter. „Sehr gut. Jetzt musst du mit dem linken Fuß nachkommen, aber nur kurz neben deinem rechten Fuß auf den Boden tippen."
„Was?"
„Wince, sie meint so", half mir Mats und ich hörte leicht seine Füße auf dem Fußboden.
„Ah, okay."
Ich erklärte ihm noch den Rest vom Grundschritt und er stellte sich gar nicht mal so blöd an. Keine Ahnung, wie es von außen aussah, aber das war ja egal.
„So und jetzt musst du führen, Wince. So ist das bei Paartänzen immer", mischte sich Mats ein, der die meiste Zeit die Klappe hielt, außer er hatte einen Einwand.
„Ich und führen? Ich hab mir die Schritte noch nicht einmal gemerkt", gab mein Freund zu.
„Du schaffst das. Wir probieren es einfach", ermutigte ich ihn.
Natürlich klappte es nicht, denn Wincents Kopf schien so mit den Schritten beschäftigt zu sein, dass er einfach viel zu verkrampft war.
„Wince, du musst das fühlen", warf Mats ein.
„Kann ich nicht. Ich muss doch schauen", konterte mein Freund, der schon ein wenig zu verzweifeln schien.
„Wartet mal", sagte Mats und seine Schritte entfernten sich.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now