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Annalena

Verdammt! Wincent hatte seinen Hoodie vergessen. Bloß nichts anmerken lassen.
„Ähm, seit heute dann wohl", antwortete ich.
„Jetzt mal im Ernst. Der ist dir doch zu groß." Mein Vater schien nicht so überzeugt.
„Papa, das ist Oversized. Das trägt man heutzutage so."
„Wenn du meinst."
Das war das Tolle an meinem Vater. Er ließ mich einfach in Ruhe, wenn er merkte, dass ich nicht reden wollte.
Mein Vater ging in die Küche zurück und ich verschwand in meinem Zimmer. Immerhin lief ich noch immer in meinen Schlafklamotten herum. Doch eine eingehende Nachricht hielt mich davon ab, mich umzuziehen. Ich nahm meine AirPods vom Nachttisch, wartete bis sie sich verbunden hatten und spielte die Nachricht ab.
„Moin Anna. Ich hoffe, bei dir ist soweit alles in Ordnung. Sag mal, kann es sein, dass mein Hoodie noch bei dir liegt? Den such ich schon seit einer halben Stunde."
Ich musste schmunzeln und dachte über eine Antwort nach.
„Moin Wincent. Also, das ist unmöglich. Hier liegt nur mein Hoodie rum. Schwarz und Größe L."
Seine Antwort kam postwendend.
„Achso. Na dann." Er lachte. „Hast du das wirklich deinem Vater aufgetischt? Das glaubt der doch niemals."
„Natürlich glaubt er das. Oder besser gesagt, er fragt nicht weiter nach."
„Dann ist ja gut. Also, im Grunde kannst du den Hoodie zurzeit gerne haben, aber wenn der absehbar mal wieder bei mir im Schrank liegen würde, wäre das super. Sag gerne Bescheid, wenn wir uns treffen können."
„Wann hast du Schluss?"
„Gegen 20 Uhr. Also könnte ich... 20:15 Uhr bei dir sein, vorausgesetzt ich werde nicht aufgehalten."
„Dann machen wir doch 20:30 Uhr draus", schlug ich vor.
„Weihst du deinen Vater ein? Oder müssen wir uns heimlich treffen?" Wincent lachte leise.
„Mal sehen, was der Tag so bringt. Ich sag dir dann Bescheid, okay?"
„Alles klar. Hab einen schönen Tag, pass auf dich auf und bis später."
„Viel Spaß beim Dreh. Blamier dich nicht. Ich freu mich auf heute Abend."
Ich legte das Handy erst einmal zur Seite. Es klopfte leise an der Tür.
„Ja?", fragte ich.
„Hier, dein Hoodie." Das ‚dein' betonte Steffi so, dass ich wusste, sie hatte mich durchschaut. Aber das war auch einfach für sie.
„Danke."
„Darf ich kurz?", fragte Steffi und als ich nickte, hörte ich das Klicken der Zimmertür im Schloss.
„Anna? Ich will mich überhaupt nicht einmischen, aber warum sagst du deinem Vater nicht einfach die Wahrheit? Irgendwann wird er es doch eh herausfinden, oder?"
Ich mochte Steffi schon immer gerne und eigentlich hatte sie Recht. Es war so gut, eine erwachsene Frau zu haben, mit der man über alles irgendwie reden konnte.
„Ich weiß es nicht", gab ich leise zu. „Ich... ich hab nie gedacht, dass so etwas mal kommt. Ich... Es gab immer nur Papa und mich, verstehst du? Das ist eine neue Situation und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll."
Steffi legte mir eine Hand auf den Arm. „Das verstehe ich. Aber bist du dir noch unsicher? Oder hast du nur Angst vor der Reaktion deines Vaters?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung."
„Du magst Wincent. Sonst hättest du ihn nicht mit zum Musical genommen. Und mit Fritz kommt er auch klar."
„Sehr gut sogar", fügte ich hinzu.
„Siehst du? Es ist gar nicht so schwer." Ich hörte Steffis Lächeln.
„Ich weiß einfach nicht, wie ich das Papa erklären soll. Ich weiß ja noch nicht einmal, was das mit Wincent ist."
Irgendwie kam ich mir gerade vor wie mein siebzehnjähriges Ich, das sich nach den ersten Panikattacken und vier Tagen ‚Diät' bei seiner quasi Ersatz-Mama versteckte. Tatsächlich war ich damals zu Steffi geflüchtet, weil ich nicht wusste, was mit mir los war. Und ich hatte Angst, meinen Vater zu verletzen.
„Ach Anna." Steffi zog mich in ihre Arme und streichelte meinen Rücken. „Du magst ihn und er dich auch."
„Woher weißt du das?", fragte ich.
„Weil ich, im Gegensatz zu dir, seine Blicke sehen kann. Und er war offenbar irgendwann nochmal hier, sonst hättest du jetzt keinen neuen Hoodie."
„Er ist erst eine halbe Stunde vor eurer Rückkehr gegangen", gab ich zu.

Wincent

Ich saß in dem gerade fast leeren Studio auf meinem Platz und mein Blick wanderte automatisch zu dem Platz, wo Fritz gestern gelegen hatte. Irgendwie vermisste ich es, ihn dort oben liegen zu sehen. Das fühlte sich einfach so gut an. Genau wie neben Anna einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Doch dass es ihr plötzlich so schlecht ging, beschäftigte mich noch immer.
„Na? Wo bist du denn mit deinen Gedanken?", fragte Kai mich.
„Was?"
Kai lachte. „Okay, ich glaube, ich frag nicht weiter."
„Worauf willst du hinaus?", fragte ich und lehnte mich ein wenig über den Tisch.
„Nichts, alles gut."
„Kai..."
„Nein. Ich sag nichts dazu."
„Drehen wir weiter?", wechselte ich das Thema. An die Arbeit zu denken war im Moment vermutlich besser.
„In fünf Minuten", antwortete Kai. „Ach und Wincent, du kannst immer mit mir reden. Es bleibt alles unter uns."
„Danke. Das weiß ich sehr zu schätzen."
Kai war ein Freund, das konnte ich nicht leugnen. Doch Gespräche über Anna wollte ich dennoch lieber mit jemand Anderem führen. Kurz überlegte ich, Johannes zu fragen, ob er Zeit hatte. Dann fiel mir allerdings eine Person ein, die mir auf jeden Fall helfen konnte. Ich nahm mein Handy heraus, suchte ewig nach dem passenden Chat und schrieb eine Nachricht. Ich steckte das Handy wieder weg und sah, wie Stephanie, Kai, Bernhard und Hubertus wieder ins Studio kamen. Das Publikum war auch zurück, sodass der Dreh weitergehen konnte. Immerhin lagen noch einige Stunden vor uns. Folgen mit Überlänge machten Spaß, da wir dann mehr Gäste und unglaubliche Geschichten hatten.

Nach Drehschluss ging ich ziemlich müde in meine Garderobe. Ich packte meine Sachen zusammen und nahm dann mein Handy heraus. Ich hatte noch eine halbe Stunde, bis ich bei Anna sein musste. Also schnappte ich meinen Rucksack und lief nach draußen. Allerdings ausnahmsweise durch den Hinterausgang, da ich noch telefonieren wollte. So gerne ich meine Fans hatte, heute war mir nicht danach, noch Fotos zu machen und zu quatschen. Im Auto setzte ich mich hinters Steuer und wählte dann mit Videoanruf die Nummer.
„Wince? Bist du es wirklich?", kam es fragend aus meinem Handy.
„Jap."
„Bro, was verschafft mir die Ehre? Es ist doch noch nicht Weihnachten." Mein bester Freund lachte. "Oder warte... Was hast du ausgefressen?", fragte Marco mich.
„Nichts", antwortete ich. „Außer mein Herz verloren, glaube ich." Ich traute mich nicht in die Kamera zu schauen, tat es dann aber doch vorsichtig.
„Wie bitte?" Marco starrte mich an, als hätte ich plötzlich zwei Hörner auf dem Kopf und Elefantenohren. „Mein bester Freund, der seit... keine Ahnung wie vielen Jahren eine Mauer um sein Herz baut, hat sich verliebt?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now