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Annalena

„Shay! Geduld!", hörte ich eine freundliche, aber dennoch strenge Stimme.
„Man Mama! Wo bleiben die denn?", jammerte Wincents Schwester.
„Ich glaub, wir sollten deine Schwester langsam mal erlösen", sagte ich leise zu Wincent.
„Ach, weißt du..." Er legte mir von hinten die Arme über die Schultern.
„Vergiss es!", unterbrach ich ihn direkt.
„Was denn? Sie ist meine kleine Schwester. Mein Job ist es, sie zu ärgern."
„Aber nicht, sie zu quälen", widersprach ich.
„Nicht mal ein kleines bisschen?"
„Nicht, wenn ich auch noch mitzureden habe."
„Okay", gab Wincent nach. „Ich will keinen Stress mit meiner Freundin."
„Gut so."
„Da seid ihr ja endlich", wurden wir in der Küche direkt von Shayenne begrüßt.
„Shay!"
„Sorry Mum! Ich bin am Verhungern", verteidigte sich Shayenne direkt. „Anna?"
„Ja?", fragte ich.
„Kannst du meinem Bruder bitte ordentliche Manieren beibringen?"
„Hey! Ich bin anwesend", kam es von Wincent.
„Ja und?", wandte sich Shay an ihn.
„Anna", kam es dann von der fremden Stimme. „Schön, dich kennenzulernen."
Ich wurde in eine liebevolle Umarmung gezogen.
„Ich bin Angela."
„Freut mich", erwiderte ich und versuchte, meine leicht vorhandene Überforderung zu verbergen.
„Mach dir übrigens keine Gedanken, die zwei bekommen sich gleich wieder ein."
„Okay", lachte ich.
„Die sehen sich so selten, da müssen sie es ausnutzen", erklärte sie mir und ich hörte das Lächeln.
„Achso."
„Hast du Hunger?", wechselte sie dann das Thema.
„Ja. Und ich fürchte, nicht nur ich."
„Die beiden können essen, wenn sie sich wieder einbekommen haben. Und jetzt setz dich, sonst wird der Auflauf kalt."
Ich kam ihrer Aufforderung nach und das unterbrach auch die beiden Geschwister. Der folgende Abend wurde zwar nicht allzu lang, aber dennoch ziemlich schön. Allerdings konnte ich eine ganze Weile nicht einschlafen.
„Hey, alles gut?", fragte Wincent irgendwann.
„Ja."
„Aber?"
„Das war ein sehr schöner Abend."
„Hast du vorher dran gezweifelt?", hakte er nach.
„Ein bisschen vielleicht", gab ich zu.
„Schatz, ich hab dir doch gesagt, dass du dir keine Gedanken machen musst."
„Ich weiß."
„Komm. Wir sollten langsam schlafen. Morgen wird ein wunderschöner, aufregender Tag."
„Mhm." Ich kuschelte mich noch enger in die Arme meines Freundes.
„Gute Nacht, Schatz."
„Schlaf gut", murmelte ich.
Am nächsten Morgen wurde ich durch sanftes Streicheln geweckt. Grummelnd drehte ich mich auf die andere Seite.
„Hey. Aufwachen, Schatz", hörte ich Wincent sagen.
„Mhm."
„Komm schon. Wir haben viel vor."
„Okay", gab ich nach und setzte mich auf.
„Geht doch."
„Seit wann bist du denn so euphorisch auf'm frühen Morgen?"
„Wir gehen klettern, also raus aus den Federn."
„Ist ja gut, hetz mich nicht." Langsam stand ich auf. „Die Ungeduld und das Nerven scheinen in der Familie zu liegen."
„Hier, deine Sachen für heute", sagte Wincent und drückte mir einige Klamotten in die Hand.
„Danke. Ich zieh mich kurz um."
„Beeil dich."
„Du nervst", sagte ich und ließ ihn alleine.
Fertig gemacht und bereit für den Tag, ging ich zu ihm zurück.
„Also können wir los?"
„Ja, du Ungeduldsbrocken", lächelte ich.
„Mum! Shay! Es geht los!", brüllte mein Freund im nächsten Moment durchs Haus.
„Du bist unmöglich", sagte ich.
„Ich freu mich nur auf den Tag mit dir und unseren Familien", erwiderte er.
„Ist angekommen", schmunzelte ich. „Aber bitte fahr trotzdem ein bisschen runter, okay?"
„Ich versuch's."
Ich griff nach Wincents Hand und drückte sie.
„Du schaffst das. Einfach durchatmen."
„Danke", erwiderte er.
Auf der Fahrt zum Kletterwald beruhigte sich Wincent glücklicherweise ein wenig. Shayenne schien genauso euphorisch zu sein wie ihr Bruder, was es definitiv nicht ruhiger machte im Auto. Angela hatte nach zehn Minuten aufgegeben, ihre Kinder zu erden. Also ertrugen wir stillschweigend die Fahrt zum Wald.

Wincent

Als ich das Auto auf dem Parkplatz abstellte und den Motor ausschaltete, stieg ich sofort aus. Ich konnte heute einfach nicht still sitzen. Es war ewig her, dass ich klettern war und ich freute mich richtig darauf. Ich spürte jetzt schon das Adrenalin in meinen Adern.
„Kommt schon", forderte Shay unsere Mum und Anna auf.
Ich sah mich derweil auf dem Parkplatz um. Da entdeckte ich Tim und Steffi und auch Fritz schien sie entdeckt zu haben.
„Fritz!" Ich griff nach seiner Leine, aber er war schon weg.
Kopfschüttelnd sah ich zu, wie er schwanzwedelnd auf Tim und Steffi zulief, um sie zu begrüßen. Nach einer kurzen Kuschelrunde kamen sie zu uns und ich wurde erst von Steffi und dann von Tim in den Arm genommen.
„Schön, dich wiederzusehen", sagte Tim.
„Ich freu mich auch. Sehr sogar", antwortete ich.
„Hallo Anna", wandte sich Steffi an meine Freundin.
„Hey Steffi. Hallo Papa."
„Okay, darf ich vorstellen? Mama, Shay, das sind Tim und Steffi. Tim und Steffi, das sind Angela und Shayenne."
Während unsere Familien sich begrüßten, ging ich zu Anna und legte meine Arme um sie.
„Alles gut?", wollte ich wissen.
„Ja. Alles super."
„Bereit für ein neues Abenteuer?"
„Ich glaub schon."
„Können wir los?", fragte ich in die Runde und bekam direkt Zustimmung von allen.
Gemeinsam zogen wir also vom Parkplatz zum Eingang des Kletterwaldes. Beim Anlegen der Gurte half Steffi Anna. Meine Mum und Steffi würden nicht mit uns klettern, sondern unten bleiben und auf Fritz aufpassen.  Bei der Einweisung übersetzte ich für eine Freundin, denn sehen konnte sie die einzelnen Dinge ja nicht. Doch sie versicherte mir immer, wenn sie etwas verstanden hatte.
„So, dann viel Spaß beim Klettern", verkündete der Guide.
„Steffi, kannst du mal bitte eben helfen?", fragte ich sie.
„Klar. Wobei?"
„Hilf mir mal bitte beim Verkabeln. Ich fühl mich sicherer, wenn wir da oben direkten Kontakt haben", erklärte ich.
„Klar. Übernimmst du Anna?", wollte sie wissen.
„Ja. Shay, komm mal!", rief ich meiner Schwester zu und übergab sie dann in Steffis Obhut.
„Anna?", wandte ich mich dann an meine Freundin. „Ich verkabel dich jetzt, wie besprochen, und dann können wir los."
Zum Glück hatte ich mir gemerkt, wo welches Kabel ran musste und worauf ich achten musste. So hatte ich Anna schnell ausgestattet und soweit die Kabel unter der Kleidung versteckt, dass sie nicht beim Klettern störten. Shay war auch fertig und bei mir ging es dann auch ganz fix. Tim würde einfach hinter uns bleiben und eingreifen, wenn es wirklich nötig war. Das bedeutete, wenn Shay auch nicht mehr konnte. Allerdings hoffte ich sehr, dass es nicht so weit kommen würde, sondern wir einfach Spaß haben konnten. Es gab einen Probeparcours, wo Anna nochmal die Sicherung üben wollte. Also warteten wir die Zeit ab und dann suchten wir den ersten Parcour. Wir begannen schön einfach, um reinzukommen und vor allem testeten wir damit die Technik aus. Ich kletterte zuerst hoch und erklärte Anna dann, dass es nur eine ganz simple Holzleiter war. So kam sie dann ohne große Probleme auch nach oben und hinter ihr Shay und Tim. Jedes einzelne Element erklärte ich Anna ganz in Ruhe und Shay oder ich korrigierten über das Monitoring ihre Handgriffe. Am Schluss musste ich sie dann leider alleine lassen, aber Shay und Tim waren da und erklärten ihr, wie die Seilrutsche ging. Ich wartete unten auf sie und als ich ihr strahlendes Gesicht sah, bekam ich Herzklopfen. Spätestens jetzt würde ich mich in sie verlieben, wenn Anna nicht schon längst mein Herz gestohlen hätte.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now