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Wincent

„Vertrau mir", sagte ich und stellte den Sitz noch ein Stück weiter nach hinten.
„Kann Fritz sich unters Auto legen?", fragte ich Anna und hoffte, sie würde keine Fragen stellen.
„Fritz, unters Auto", befahl Anna und dann hörte ich ganz leise seine Pfoten auf dem Platz.
„Danke."
„Was ist los?", wollte sie wissen.
„Eventuell sind wir hier gleich nicht mehr alleine. Also dreh dich am besten unauffällig zu mir um", erklärte ich und sah in die Richtung, aus der ich das Auto hatte kommen sehen.
Anna tat tatsächlich, was ich gesagt hatte, und nun sah ich ihr Gesicht. „Wincent. Was ist?"
„Psst", erwiderte ich und legte meine Lippen auf ihre, damit sie ja die Klappe hielt.
Die Ablenkung funktionierte, denn das Auto fuhr langsam an uns vorbei. Mein Herz klopfte deutlich schneller als normal und ich spürte das Adrenalin in meinen Adern. Das durfte ich nie jemandem erzählen. Die letzte Weihnachts-Polizeigeschichte war zwar peinlicher, aber auch legaler als die heute.
„Was...?", setzte Anna an, denn natürlich hatte sie nicht vergessen, was sie die ganze Zeit schon wissen wollten.
„Komm, ich erzähle es dir unterwegs."
„Okay."
Wir stiegen aus und ich holte aus dem Kofferraum unsere Rucksäcke und den Koffer heraus. Fritz war wieder unter dem Auto hervorgekommen und nachdem er sich einmal geschüttelt hatte, sah er auch wieder hell und halbwegs sauber aus. Ich schloss noch das Auto ab und dann zogen wir los in Richtung Wohnung. Natürlich ließ meine Freundin nicht locker und so musste ich ihr leider beichten, dass wir kurz Besuch von der Polizei hatten. Warum auch immer die am zweiten Feiertag Streife fuhren. Ich wusste nicht so wirklich, wie ich Annas Reaktion deuten sollte. Im ersten Moment sah es so aus, als würde sie mich einen Kopf kürzer machen wollen, aber dann reagierte sie doch ziemlich entspannt.
„Also war der Kuss nur reine Ablenkung?", fragte sie.
„Nein. Eher eine Belohnung. Das andere war nur ein positiver Nebeneffekt", antwortete ich.
„Achso."
Auf dem Weg zu Tims Wohnung erzählte ich Anna, wie die Stadt aussah. Und ich musste zugeben, dass die eingeschneiten Häuser und die Eisschicht auf der Elbe echt cool aussahen. Ich war generell ein Wintermensch. Am Sommer liebte ich das entspannte Baden gehen und die Open Air-Konzerte, aber der Winter war einfach auch geil. Schneemänner bauen, Schneeballschlachten, warmes Kaminfeuer, Plätzchen backen, Glühwein, Weihnachten und Schlitten fahren. Wobei ich letzteres vermutlich nicht tun sollte, wie ich im Jahr zuvor gelernt hatte. Als wir vor der Wohnung standen, die ich nun auch schon gut kannte, fiel mir auf, wie viel wir hier erlebt hatten. Die ersten gemeinsamen Nächte hatten wir hier verbracht und obwohl noch gar nicht so viel Zeit vergangen war, fühlte es sich super lange her an.
„Hey Papa, ich bin es", hörte ich Anna sagen und landete damit wieder in der Gegenwart.

Annalena

Wieder neben Wincent die altbekannten Treppen nach oben zu gehen, war ein tolles Gefühl. So richtig wie nach Hause kommen. Krass, wie viel sich seit meinem letzten Besuch geändert hatte. Damals kannte ich Wincent kaum und hatte vor allem damit zu tun, mich mit Martha herumzuschlagen. Jetzt schwieg sie schon einige Wochen, wofür ich sehr dankbar war, und ich durfte Wincent als meinen Freund, also festen Freund, bezeichnen. Was eine Wendung.
„Hallo Anna, mein Schatz", begrüßte mich mein Vater, als Wincent und ich oben ankamen.
Ich genoss seine Umarmung sehr und nahm mir mal wieder vor, häufiger in Hamburg zu sein.
„Hallo Wincent. Schön, dich zu sehen", wandte sich mein Vater an meinen Freund.
„Moin, Tim."
Fritz wurde natürlich auch ausgiebig begrüßt, was er auf jeden Fall sehr genoss.
„Wir sind übrigens nicht nur zu viert heute", sagte mein Vater, als wir uns die Schuhe und Jacken auszogen.
„Wer ist denn noch da?", fragte ich neugierig.
„Ach, das ist ja eine Überraschung", hörte ich Wincent sagen.
„Hallo, ihr drei."
„Steffi!" Ich ging auf sie zu und nahm sie fest in den Arm. „Was machst du denn hier?"
„Wir haben Weihnachten zusammen verbracht", verriet mein Vater mir.
Verwirrt blieb ich im Flur stehen, während mein Vater und Steffi schon in die Küche gingen. Wincent legte mir einen Arm um die Hüfte.
„Ich würde mal sagen, dieses Weihnachten steckt voller schöner Überraschungen", sagte er leise.
„Das stimmt."                  
„Also, ich will mich ja nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich schätze, wir haben häufiger die Freude von Steffis Anwesenheit."
„Wie meinst du das?", hakte ich nach.
„Dein Vater schaut sie immer wieder ungefähr genauso an, wie ich dich. Nur versucht er es unauffälliger zu machen."
„Bist du dir sicher?"
Ich hatte absolut gar nichts gegen Steffi als Stiefmutter. Im Grunde war sie mein ganzes Leben lang nichts anderes. Dennoch war ich unsicher, denn mein Vater hatte in unseren Telefonaten und Nachrichten nie etwas gesagt.
„Ganz sicher", sagte Wincent.
„Dieses Weihnachten hat es echt in sich", murmelte ich.
Wir aßen mit meinem Vater und Steffi ganz in Ruhe zu Mittag. Als der Tisch abgeräumt war, begannen wir alle fast gleichzeitig zu gähnen. Daher einigten wir uns auf eine Stunde Mittagsschlaf und es kehrte Ruhe ein. Ich kuschelte mich in meinem Bett wieder an Wincents Brust und schlief vergleichsweise schnell ein. Pünktlich eine Stunde später, ließ mich der Wecker aufschrecken. Mein Freund war schon wach und so machten wir uns im Bad nochmal kurz frisch. Im Wohnzimmer hatte mein Vater leise Musik angemacht.
„Hey, das ist doch unser Song", fiel mir auf.
Meinem Vater schien das auch aufzufallen, denn die Lautstärke wurde etwas höher geregelt.
„Darf ich bitten?", fragte mein Vater und ich nickte.
Obwohl der letzte Tanz mit ihm schon einige Zeit her war, spürte ich die gleiche Energie wie immer. Nach Ende des Songs gab es Beifall und wir verbeugten uns vorbildlich.
„Das sah richtig gut aus", sagte Wincent anerkennend.
„Komm, du kannst es doch auch", forderte ich ihn auf.
„Maus, du weißt, dass ich nicht tanzen kann."
„Hör auf mit den Ausreden", erwiderte ich direkt. „Erinner dich an die Tanzstunden mit Mats bei mir im Wohnzimmer. Natürlich kannst du einen Walzer."
„Okay", gab er nach und stand auf.
„Papa, Musik ab."
„Jawohl", erwiderte er.
„Schließ die Augen, erinner dich kurz zurück und dann hör nur auf die Musik", gab ich Wincent noch letzte Tipps.
„Okay", sagte er leise.
Die ersten Töne von ‚Küss mich, halt mich, lieb mich' schallten durch das Wohnzimmer und tatsächlich hatte Wincent sich die Schritte gemerkt. Ich war sehr stolz auf ihn, denn es fühlte sich ziemlich gut an, von ihm geführt zu werden. Und es machte enorm viel Spaß.
„Das sah echt gut aus", lobte mein Vater, als der letzte Ton verklungen war.
„Danke", erwiderte Wincent und ich gleichzeitig.
„Kannst du eigentlich auch Walzer?", wandte ich mich an Steffi

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now