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Annalena

„Sicher, dass du das wissen willst?", fragte er nach.
„Ja", sagte ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher war.
„Okay." Er machte eine Pause und ich spürte, wie er tief durchatmete.
„Vor wenigen Jahren, also vor zwei bis drei ungefähr, ging es mir nicht so gut. Ich blockte meine Freunde ab und hab mich zu allem gezwungen, was mit dem Job zu tun hatte. Ich habe nichts mehr empfunden außer Kälte."
Ich bekam direkt eine Gänsehaut. Wincent strahlte so eine Ruhe und vor allem Lebensfreude aus, dass ich mir gar nicht vorstellen wollte, wie er zu der Zeit war. Ja, das gehörte irgendwie zu seinem Leben, aber ich mochte den Wincent, wie er jetzt war, deutlich mehr. Der Adrenalin-Junkie, den so viel Wärme umgab, der meinen Hund verhext und mein Herz gestohlen hat.
„Und dann?", fragte ich leise nach.
„Dann hatte ich meine Familie und meine Freunde. Also ich konnte nicht mehr alleine sein, mich nicht mehr im Spiegel anschauen, ich war ein schlechter Mensch. In meinen Augen zumindest. Aber meine beste Freundin Amelie und auch meine anderen Freunde haben sich einfach nicht abwimmeln lassen. Meine Familie stand auch immer hinter mir und dann habe ich irgendwann eingesehen, dass ich so nicht weitermachen kann. Ich habe eine Therapie begonnen und es ging mir nach und nach wieder besser. Und dann, als es mir wieder soweit gut ging, bin ich ins Studio gefahren und hab mit Kevin, Maty und Konrad gesprochen. Das sind meine Produzenten und Songwriter. Und wir haben geredet und geredet und dann begonnen, die Songs vom dritten Album zu schreiben. Mein persönlichstes bisher."
„Und jetzt? Geht es dir wieder wie früher?"
„Nein", antwortete Wincent. „Ich bin um einiges an Wissen reicher. Ich weiß, wer meine echten Freunde sind, auf wen ich mich immer verlassen kann, wer da ist, wenn ich ihn brauche. Und ich habe gelernt, dass man manchmal Hilfe annehmen muss, um nicht unterzugehen. Und vor allem ist das nichts Schlimmes. Ich finde, es ist eher ein Zeichen von Stärke, wenn man sich selbst und vor anderen die Schwäche eingestehen kann. Hilfe annehmen ist schwer, ich weiß, aber am Ende ist man froh, über seinen Schatten gesprungen zu sein."
Irgendwie hatte er ja Recht, das wusste ich auch. Doch in mir herrschte noch immer die Angst, es dieses Mal nicht zu schaffen. Unterzugehen in Panik und Sucht. Allein zu sein. Wieder ein Schatten meiner Selbst, ein Wrack und zu gebrauchen. Kaputt. Mit dem Wissen, mindestens ein Herz gebrochen zu haben.

Wincent

Ich beobachtete Anna die ganze Zeit ziemlich genau. Ihren inneren Kampf konnte ich deutlich spüren. Ich konnte nachempfinden, wie es ihr ging, denn solche Momente wie jetzt hatte ich auch. Immer wieder in der letzten Zeit kamen wieder so Tage, an denen ich nicht alleine sein konnte. Im Hotel angekommen, rutschte ich wieder in Richtung Loch und der Winter kam langsam zurück. Und genau, weil ich eben wusste, wie es ihr ging, wollte ich Anna helfen. Sie war mir wichtig, sehr sogar. Ich würde es nicht verkraften, wenn es Anna wieder so schlecht ging, wie damals.
„Anna?", fragte ich vorsichtig. „Wieso willst du nicht mit deinem Vater darüber reden?"
„Ich kann das nicht. Ihm erklären zu müssen, dass der ganze Scheiß von damals, wie aus dem Nichts, von vorne begann, würde ihm das Herz brechen. Er hat so viel für mich getan, das kann ich ihm nicht antun. Ich muss das irgendwie alleine schaffen."
Sie klang wirklich davon überzeugt und ein Stück weit konnte ich das nachvollziehen.
„Das verstehe ich. Aber weißt du, Menschen, die uns nahestehen, wollen immer alles wissen. Ich weiß, wie schwer es ist, sich und jemand anderem eingestehen zu müssen, dass man schon wieder Hilfe braucht. Aber das ist vollkommen okay. Du kannst ja im Grunde nichts dafür, dass es dir so geht."
Ich ließ meine Worte eine Weile einfach so stehen.
„Und Anna, alleine musst du das schon gar nicht schaffen. Wenn du deinen Vater nicht einweihen willst, ist das eine Sache. Aber du kannst dir trotzdem Hilfe holen. Und zwar nicht erst, wenn du alleine nicht weiter kommst, sondern in den Moment, wo du spürst, dass es dir schlecht geht."
„Hast du das auch noch?", fragte sie leise.
„Ja", antwortete ich ehrlich. „Es gibt immer mal wieder solche Momente. Quasi wie kleine Flashbacks."
„Und was machst du dann?"
„Meistens versuche ich mich abzulenken. Den Fokus auf etwas anderes zu legen. In der Regel gehe ich dann ins Fitnessstudio oder mache dort, wo ich bin, einfach ein bisschen Sport. Dabei kann man den Kopf nämlich noch am einfachsten ausschalten. Und wenn Ablenkung nicht hilft, dann schreibe, telefoniere oder rede ich einfach mit jemandem. Meistens mit Amelie oder meinem besten Freund Marco. Wenn ich Zuhause vermisse, weil ich zum Beispiel wieder viel unterwegs bin, dann rufe ich auch meine Mutter an und erzähle ihr von meinen Gedanken."
„Ich wünschte, ich könnte das auch", murmelte sie.
„Ach Maus..." Ich zog sie wieder näher an meine Brust.
Anna hatte ihre Mutter bisher nicht erwähnt, vermutlich aus gutem Grund. Doch heute hatte sie mir schon so viel mehr anvertraut, als ich gedacht hätte, dass ich nicht das nächste blöde Thema anschneiden wollte.
„Ich hab einen Vorschlag", sagte ich irgendwann.
„Ja?"
„Wenn du nicht mit deinem Vater, Steffi oder deiner besten Freundin reden willst, dann schreib mir. Und auch, wenn ich vielleicht nicht direkt Zeit habe, ich antworte dir immer, okay? Ich versuche aber, so gut erreichbar zu sein, wie möglich. Immerhin habe ich nach dem Dreh hier erst einmal ein wenig Pause, bevor es dann wieder auf Tour geht."
„Meinst du das Ernst?", kam es ungläubig zurück.
„Natürlich. Anna, du bist mir unheimlich wichtig und ich will nicht, dass deine schlimmsten Albträume wahr werden. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Ohne das alles noch einmal erleben zu müssen."
„Danke für alles", sagte Anna und kuschelte sich noch enger an mich.
Irgendwie war es ein gutes Gefühl, mit Anna hier einfach am Wasser zu sitzen, zu kuscheln, zu reden oder einfach zu schweigen. Dazu kam, dass sie wie selbstverständlich meinen Hoodie trug. Es fühlte sich einfach so richtig an. Diesen Moment würde ich nie wieder vergessen.
Anna hatte mir ihre dunkelste Seite gezeigt und das, obwohl ich noch nicht einmal alles von ihr wusste. Nach der kurzen Zeit, die wir uns kannten, schon so tiefe Einblicke in ihre Seele zu bekommen, war einfach unglaublich.
„Komm, du solltest langsam nach Hause, Maus. Es wird ziemlich kalt", sagte ich, nachdem wir noch eine ganze Weile einfach so dagesessen hatten.
„Kommst du mit?", fragte sie schüchtern.
„Natürlich. Alleine lasse ich dich nicht nach Hause."
Anna stand langsam auf und ich tat es ihr gleich. Ich gab ihr Fritz Leine und nahm wieder ihre andere Hand. So liefen wir durch die Straßen bis zur Wohnung ihres Vaters zurück.
„Wincent", kam es leise von Anna, als wir vor der Haustür standen.
„Was ist los?", fragte ich.
„Ich will da nicht hoch."

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now