9

193 16 4
                                    

Wincent

Ein Anruf von Annas bester Freundin unterbrach uns und wir beschlossen, dass wir nun getrennte Wege gehen würden. Zumindest für heute. Wir tauschten noch Telefonnummern aus und ich prägte mir ein, dass ich Anna nur Sprachnachrichten schicken durfte. Der Abschied von Fritz und ihr fiel mir ziemlich schwer, aber mit dem Wissen, dass wir uns bald wiedersehen würden, konnte ich dann doch zum Parkplatz zurücklaufen. Anna wollte nach Hause und so gerne ich sie begleitet hätte, ich musste dringend los.
Im Auto sitzend rief ich nun endlich Amelie an.
„Wincent! Na endlich! Wo steckst du?", begrüßte sie mich vorwurfsvoll.
„Sorry. Mir kam etwas dazwischen. Bin in fünf Minuten da", sagte ich und legte auf.
Da die Ampel gerade auf grün sprang, drückte ich das Gaspedal durch. Sechs Minuten später hielt ich vor Amelies Wohnung. Sie stand schon vor der Tür.
„Kannst du dich vielleicht einmal an die Straßenverkehrsordnung halten?", fragte sie, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
„‚Mach ich immer", erwiderte ich, wartete bis Amelie sich angeschnallt hatte und fuhr los.
„Wo hast du eigentlich gesteckt?", wollte Amelie dann wissen.
„Ich war einkaufen", antwortete ich.
„Und deswegen strahlst du so?" Sie sah mich misstrauisch von der Seite an.
Verdammt! Strahlte ich wirklich? Naja, dann war es so. Immerhin wollte sie ja, dass ich wieder so richtig glücklich war.
„Erzähl ich dir später", vertröstete ich sie.
„Hast du Bier besorgt? Nach dem zweiten kannst du es eh nicht mehr für dich behalten."
Ich kommentierte das nicht weiter, denn ganz falsch lag sie nicht. Da merkte man wieder, dass Amelie einfach meine beste Freundin war.
Als ich das Auto bei Mats parkte, war ich echt froh. Immerhin entging ich so kurzzeitig dem neugierigen Blick von Amelie.
„Hey Wince! Wie war das mit dem überpünktlich sein?", begrüßte mich Mats, als ich gerade den Kofferraum öffnete.
„Sorry, kam etwas dazwischen", antwortete ich.
„Das hat er mir auch schon gesagt", kam es von Amelie. „Aber er rückt einfach nicht mit der Sprache raus."
„Na, das bekommen wir doch gelöst", meinte Mats zuversichtlich und nahm ein Teil des Biers.
Ich drückte Amelie den Jägermeister in die Hand und nahm den Rest Bier heraus. Dann schloss ich den Kofferraum und das Auto ab. Gemeinsam gingen wir zu Mats in die Wohnung, wo wir alles in der Küche abluden.
„Ich erzähl es euch sogar freiwillig", sagte ich und zog meine Schuhe im Flur aus.
Amelie tat es mir gleich und dann nahmen wir jeder ein Bier und machten es uns auf der Couch bequem.
„Also?" Amelie sah mich abwartend an.
„Lass mich raten. Eine Frau?", fragte Mats.
Mein Grinsen verriet mich wohl schon, bevor ich sagte: „Ja. Korrekt. Aber eine besondere."
„Wieso? Hat sie einen Hund?", fragte Mats scherzhaft.
„Das auch", bestätigte ich. „Fritz ist echt süß. Aber darf eigentlich nicht gestreichelt werden."
„Eigentlich?", fragte Amelie mit hochgezogener Augenbraue.
„Naja, ich wusste das nicht, als er mir im Supermarkt zulief", erzählte ich. „Woher denn auch? Immerhin hatte ich noch nie mit Begleithunden zu tun. Anna meinte, dass es nicht so schlimm war, dass ich ihn gestreichelt habe. Naja, man lernt ja immer dazu. Zum Beispiel, dass ich ab sofort beim Kauf von Jever darauf achten werde, ob Fritz in der Nähe ist."
Ich schaute in zwei fragende Gesichter.
„Fritz hat offenbar mitbekommen, wie ich in einer Sprachnachricht an Mats von Jever gesprochen habe und prompt kam er zu mir. Das ist Annas Lieblingsbier und er wollte nicht, dass das jemand anderes kauft."
Noch immer standen sowohl Mats als auch Amelie die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.
„Anna ist blind. Fritz ist ihr Begleithund", löste ich das Rätsel auf.
„Moment. Aber nicht Annalena, oder?", hakte Mats nach.
„Sie hat sich nur als Anna vorgestellt."
„Ja. Also die Annalena von den Konzerten will nur Anna genannt werden. Wie viele blinde Annas gibt es wohl in Berlin?", überlegte Mats laut.
„Keine Ahnung", gab ich zu. Dann beschrieb ich ihm meine Anna.
„Bis auf die Brille passt es", meinte Mats.
„Die ist ja eh nur Atrappe", sagte ich.
„Stopp! Ich komm nicht hinterher", mischte sich Amelie ein. „Was hab ich alles verpasst?"
Mats berichtete in Kürze von seiner Begegnung mit Anna in Berlin und verschwieg natürlich auch nicht, dass ich danach immer nach ihr gesucht hatte. Dieser Idiot. Der Teil war ja mal absolut überflüssig.
„Und jetzt hast du sie beim Einkaufen getroffen?", wandte sich Amelie an mich.
„Keine Ahnung ob es die gleiche Anna ist", gab ich zu.
„Lass mich raten, du hast ihr auch nicht erzählt, dass du Wincent Weiss bist", kam es von Mats.
„Korrekt. Ich wollte das nicht direkt am Anfang sagen. Immerhin ging es ja um mich als Person und nicht um den Künstler."

Annalena

Als ich Zuhause angekommen war klopfte mein Herz noch immer wie wild. Auch das Telefonat mir Lara hatte nicht geholfen, bei dem ich natürlich preisgeben musste, dass ich mich mit einem Mann getroffen hatte. Auf ihre erste Frage, ob er gut aussah, hatte ich nur lachend erwidert, dass ich keine Ahnung hatte. Wir quatschten allerdings nicht lange, da sie arbeiten musste.
Wieder in meiner Wohnung angekommen, brachte ich meinen Einkauf in die Küche und räumte ihn weg. Danach ging ich in den Flur zurück und zog meine Schuhe aus. Kurz stand ich dort noch verloren herum, bis ich mich im Wohnzimmer auf die Couch legte und an die Decke schaute. Ganz automatisch wanderten meine Gedanken zu Wincent. Was er wohl gerade tat? Wie lief sein Treffen ab? Und war er wirklich bei dem Mats, den ich kannte?
Nach einer Stunde stand ich auf und machte mir ein schnelles Abendessen. Dann fütterte ich Fritz und da es in Strömen regnete, entfiel die Gassirunde. Ich machte mich im Bad fertig und ließ mich ins Bett fallen. Fritz raschelte noch mit der Decke in seinem Körbchen, dass in einer Ecke meines Schlafzimmers stand. Dann war Ruhe und mit dem Gedanken an Wincent schlief ich ziemlich schnell ein.
Als ich nachts mal kurz wach werde, vibriert mein Handy. Offensichtlich habe ich eine neue Nachricht bekommen. Ich kann gerade eh nicht schlafen, also beschließe ich, mir die Nachricht anzuhören.
„Hey Anna, hier ist Wincent. Ich weiß, dass es recht spät oder früh ist, je nachdem. Vermutlich schläfst du schon längst. Ich wollte dir eigentlich nur eine gute Nacht wünschen, denn ich geh jetzt schlafen. Ich weiß, dass drei Uhr nachts nicht die normale Zeit ist, aber gut. Wenn du das erst morgen früh abhörst, wünsche ich dir auf jeden Fall einen guten Morgen. Ich meld mich später nochmal."
Unwillkürlich begann mein Herz wieder schneller zu schlagen. Er hat also auch noch vor dem Schlafengehen an mich gedacht. Diese Erkenntnis ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder erwachen und spätestens jetzt war es mit Schlaf vorbei.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now