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Wincent

„Mama will doch bestimmt auch alles wissen."
„Stimmt. Zeigst du mir wenigstens Bilder?"
„Ja, okay."
Ich hatte eh keine Wahl. Spätestens, wenn sie mich mit ihrem Hundeblick ansehen würde, war ich verloren und das wusste sie ganz genau. Also zückte ich mein Handy und scrollte durch meine Galerie. Mats hatte mir nämlich schon die Aufnahmen geschickt, die er in Österreich gemacht hatte. Ich liebte die Bilder, vor allem weil Anna ihre Brille nicht trug. Irgendwie gefiel sie mir ohne ein wenig besser.
Ich hielt Shay mein Handy hin.
„Oh mein Gott. Also, ich weiß, dass dir das nicht so wichtig ist, aber wie hübsch ist sie denn bitte? Ich... ich würde sofort mit ihr tauschen."
„Hey, du bist auch sehr schön. Genau so, wie du bist."
„Mhm. Das musst du sagen, weil du mein Bruder bist."
„Ich meine das aber auch so. Du weißt, dass ich immer ehrlich zu dir bin."
„Ja."
„Wer sagt dir denn, dass du nicht hübsch bist?"
„Niemand."
„Shay...", sagte ich warnend, denn ich wusste, dass sie log.
„Ich bin halt weder blind noch blöd. Hast du dir mal die anderen Mädchen in meinem Alter angesehen?"
„Ja. Und ganz ehrlich? Ich find jetzt nicht unbedingt, dass man solches Aussehen anstreben soll. Man erkennt doch gar nicht mehr, wie alt die sind. Und natürlich ist es immer noch am besten. Glaub mir das."
„Mhm." Sie wirkte nicht sehr überzeugt.
Ich dachte kurz nach, wie ich sie überzeugen konnte. Shay war leider schon immer nicht ganz so selbstbewusst wie ich. „Shay, hör mir mal bitte zu."
Sie sah mich fragend von der Seite an.
„Bitte lass dir nicht von anderen vorschreiben, wie du auszusehen hast. Das ist genau das, was ich immer auf den Konzerten zu Social Media sage. Du bist perfekt, so wie du bist. Wichtig ist, dass du dir selbst gefällst." Ich tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Am Ende zählt nur dein Herz. Nichts anderes. Ich weiß, es ist schwer, die Meinung von anderen nicht ganz so wichtig zu nehmen, aber du kannst das. Und dann sieht das Leben wieder viel schöner aus."
„Danke."
Ich nahm meine kleine Schwester ganz fest in die Arme und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Ich müsste viel häufiger Zuhause sein. Das wurde mir gerade mal wieder sehr stark bewusst.
„Winnie?"
„Ja?"
„Würde Anna auch sagen, dass ich hübsch bin?"
Ich dachte kurz nach. Was würde sie sagen?
„Ganz bestimmt. Weißt du, Anna beurteilt Menschen nur nach den inneren Werten. Etwas Anderes kann sie auch gar nicht beurteilen."
„Hä?"
„Naja..." Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte. „Anna kann nichts sehen."
„Also ist sie blind?"
„Ja."
„Das heißt, sie weiß gar nicht, wie du aussiehst. Wie alles aussieht..."
„Korrekt."
„Krass."
Mehr konnte sie gar nicht sagen, denn ihr Handy klingelte.
„Es ist Mum", sagte sie und hielt mir das Display hin.
„Geh ran. Oder soll ich?"
„Dann bekommt sie doch den Schock ihres Lebens", konterte Shay und ging dann ans Telefon. „Hey Mum."
Ich musste mich zwingen, nicht dazwischen zu reden und deshalb nahm ich mein Handy und scrollte durch die eingegangenen Nachrichten. Allerdings kam nichts von Anna, was mich schon wunderte.
„Mum fragt, wann ich nach Hause komme. Sollen wir los?", riss mich Shay aus meinen Gedanken.
„Klar. Willst du wieder fahren oder soll ich?"
„Ich fahre." Sie grinste mich an und stand dann auf.
Ich tat es ihr gleich und wir gingen gemeinsam zum Auto zurück. Dann fuhren wir zum Haus, in dem meine Mutter und meine Schwester wohnten. Sie parkte und ich schickte sie schon einmal vor. Ich stieg dann auch aus und schlich mich zur Haustür.
„Ich bin Zuhause!", hörte ich Shay durchs Haus rufen.
Leise folgte ich ihr und schloss möglichst leise die Haustür. Meine Mum schien in der Küche zu sein, denn dort klapperte es. Wir zogen unsere Schuhe und die Jacken aus und dann ging ich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, während Shay zu unserer Mutter in die Küche ging.
„Na, wie war dein Tag?", wollte Mum wissen.
„Ganz okay."
„Sag mal, das draußen klang nicht wie dein Auto. Hast du wieder eins von Wince ausgeliehen?"
„Nein. Ich darf das haben."
„Habt ihr telefoniert?"
„Nein?"
„Geschrieben?"
„Nein."
Ich musste mich echt zusammenreißen, denn ich konnte das verwirrte Gesicht meiner Mum bildlich vor mir sehen.
„Ist das Essen fertig?", wechselte Shay das Thema.
„Ja. Bin gleich soweit."
„Ich decke schon mal den Tisch. Wohnzimmer?"
„Können wir gerne machen."
Kurz darauf betrat Shay den Raum und deckte für drei Personen den Tisch. Dann gingen wir schnell Hände waschen und setzten uns anschließend an den Tisch.
Als wir die Schritte unserer Mutter hörten, konnten wir uns nicht mehr ansehen. Sonst hätten wir beide angefangen zu lachen. Ich starrte auf meinen Teller und Shay die gegenüberliegende Wand an, wie ich sah, als ich kurz aufschaute.
„So..." Die Stimme meiner Mutter brach ab.
Vorsichtig drehte ich mich um und hoffte sehr, dass sie das Essen nicht fallen ließ.
„Wince", hauchte sie und ihre Augen leuchteten vor Freude.
„Hey Mum."
Sie stellte das Essen auf den Tisch und ich stand auf. Ich sah ihr an, dass sie mich umarmen wollte und ich hatte sie auch viel zu sehr vermisst.
„Es ist so schön, dass du mal wieder Zuhause bist", sagte meine Mum.
„Ich bin auch sehr glücklich. Hab euch vermisst."
„So, lasst uns essen."
Beim gemeinsamen Abendessen brachten wir uns gegenseitig auf Stand, was so in den letzten Wochen abging. Natürlich quetschte mich meine Familie auch über Anna aus, aber das war ja zu erwarten. Auch meine Mum nahm die Info, dass Anna blind war, sehr gelassen auf. Ich hatte damit fast gerechnet, aber dennoch beruhigte es mich, die Livereaktion zu sehen. Ich konnte Anna also ganz entspannt mit hierher bringen.
Nach dem Essen machten wir es uns auf der Couch bequem und redeten einfach weiter. Es tat so gut, wieder hier zu sein. Es zählte mal nicht, wie erfolgreich ein Song oder eine Show war. Ich war einfach nur der kleine Junge vom Dorf, der mit seiner Familie einen entspannten Abend verbrachte. Viel zu spät gingen wir ins Bett und ich stellte fest, wie sehr sich mein Leben verändert hatte. Das hier war mein Zimmer, bevor ich mit 17 Jahren ausgezogen war.
Ich checkte noch einmal mein Handy, aber ich hatte noch immer nichts von Anna gehört. Also schickte ich ihr eine Sprachnachricht und fragte, wie es ihr ging und was sie gemacht hatte. So langsam machte ich mir Sorgen, denn seit wir uns kannten, hatten wir noch nie so lange Funkstille.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt