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Wincent

Ich sah die Tränen in Annas Augen und wischte sie schnell weg. Sie sollte nicht weinen, auch wenn es aus Rührung oder Freude war. Ich wollte meine Freundin nur glücklich sehen.
„Ich liebe dich so unglaublich doll", sagte sie und legte dann ihre Lippen auf meine.
„Ich liebe dich", erwiderte ich und zog sie in meine Arme.
„Man Wince, wie soll ich denn jetzt alleine die Stunde Therapie schaffen?", murmelte sie an meiner Brust.
Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Ich bin mir sicher, du schaffst das, genau wie alles andere auch schon. Du bist stärker als du gerade glaubst."
„Wince, ich..."
„Shh. Du schaffst das und ich bin wirklich nicht weit weg."
Wir schwiegen kurz beide.
„Und nach der Stunde warte ich hier auf dich und dann gehen wir Sushi essen", sagte ich irgendwann.
Sie dachte kurz nach. Vielleicht war es fies, ihr Lieblingsessen als Bestechung zu verwenden, aber etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein.
„Aber du bist wirklich da, wenn ich dich anrufe?"
„Sofort. Versprochen."
„Okay."
„Okay?"
„Ja. Ich versuche es."
„Ich bin stolz auf dich", sagte ich und drückte sie nochmal ganz fest an mich.
Als Katrin Anna aufrief, gab ich ihr noch einen Kuss und machte mich dann auf den Weg ins Gym. Draußen atmete ich einmal lange aus und lief dann die zwei Straßen weiter, die ich mir auf Google Maps angeschaut hatte. Sport würde mir guttun und meine Zweifel bezüglich Annas Stunde ein wenig in den Hintergrund drängen. So cool wie ich ihr gegenüber drauf war, fühlte ich mich nämlich absolut nicht. Doch ich wusste, dass es die beste Lösung war. Sie musste am Ende mit Katrin arbeiten und nicht ich. Natürlich war es meine Aufgabe, Anna zu unterstützen, aber Therapiestunden waren ein geschützter Raum. Das musste meine tapfere Freundin jetzt nur noch in Ruhe lernen und herausfinden.
Ich hatte mir ein kurzes Workout für heute auf dem Plan, damit ich noch duschen konnte und kurz vor Ende der Stunde wieder in Praxis war. Mein Handy auf laut, Airpods in den Ohren und meiner Sportplaylist auf Spotify startete ich die Einheit. Ich konnte mich ganz gut konzentrieren, wobei mir wieder einfiel, dass ich ja für Annas Weihnachtsgeschenk recherchieren wollte. Das konnte ich bestimmt morgen noch machen, wenn ich es mir aufschrieb.
Pünktlich war ich durch und sprang unter die Dusche. Da Anna sich bisher nicht gemeldet hatte, ging ich davon aus, dass alles okay war. Ich wusste, dass sie das auch alleine konnte. Da ich doch ein wenig zu früh dran war, ging ich die Straße weiter durch. Dabei kam ich an einem Bastelladen vorbei und hatte ganz spontan eine Idee.

Annalena

Ich griff wieder nach der Taschentücherbox, die Katrin auf den Tisch gestellt hatte. Fritz Kopf lag inzwischen auf meinem Schoß, so oft musste ich auf die Box zurückgreifen. Es tat einfach wieder verdammt weh, die ganzen Erinnerungen an die Oberfläche zu holen, die ich endlich gut verschlossen hatte. Doch ich wusste, dass es wichtig war, sie aufzuräumen, zu sortieren und dann endgültig zu schließen.
„Anna?", fragte Katrin mich.
Ich nickte und versuchte mich auf ihre Worte zu konzentrieren.
„Okay, wir machen das anders. Hast du schonmal gezeichnet?"
„Nein", sagte ich und putzte meine Nase.
„Dann versuchen wir das mal. Ich gebe dir einen Bleistift und du versuchst in Linien auszudrücken, was gerade in dir vorgeht. Es gibt kein richtig und falsch, okay?"
Ich nickte und rutschte ein wenig näher an den Tisch. Mit Stiften hatte ich ganz am Anfang in der Grundschule zuletzt geschrieben. Allerdings konnten die Lehrer meine Schrift nie entziffern, weil ich ohne vorgeprägte Linien einfach aufgeschmissen war. Wo ich schon mit dem Stift war, konnte ich halt nicht sehen.
Dementsprechend skeptisch war ich auch, das Katrins Aufgabe betraf. Aber wenn ich eins gelernt hatte, seit ich Wincent kannte, dann, dass man neue Dinge ausprobieren musste. So nahm ich den Bleistift und versuchte einfach zu zeichnen. Es war ganz bestimmt nicht schön, aber ich merkte ein wenig, wie ich mich entspannte. Das war definitiv besser als reden. Katrin sah mir gar nicht beim Zeichnen zu, zumindest spürte ich ihren Blick nicht. Nach einiger Zeit legte ich den Stift weg, denn mir ging es wieder besser.
„Fertig", verkündete ich.
„Okay, dann schauen wir mal."
Es herrschte Stille, aber ich hörte Katrin mit dem Papier rascheln.
„Wie geht's dir jetzt gerade?", wollte sie dann wissen.
„Ganz gut."
„Das ist sehr schön. Meinst du, wir können weitermachen?"
„Womit?"
„Was liegt dir denn noch auf dem Herzen?"
Ich dachte kurz nach und mir fiel wieder Wincents Schlüsselbund ein. Ich erzählte Katrin davon und dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Das beschäftigte mich im Moment halt am meisten.
Sie stellte noch einige Nachfragen, aber hauptsächlich erzählte ich von Wincent und mir. Beim Revue passieren lassen fiel mir erst auf, wie viel wir schon erlebt hatten.
„Das klingt doch alles ziemlich gut", kommentierte Katrin, als ich zu Ende berichtet hatte.
„Ja. Aber ich hab irgendwie Angst. Das Ganze fühlt sich zu perfekt an, wenn es das gibt."
„Weil du schlechte Erfahrungen gemacht hast", riet meine Therapeutin.
„Ja. Irgendwie fühlt sich das immer ein wenig wie ein Traum an."
Wir redeten noch eine ganze Weile über das Thema und am Ende ging ich mit einem besseren Gefühl aus der Sitzung.
Wincent wartete schon wie versprochen auf mich.
„Warst du duschen?", fragte ich.
„Jap. Im Gym. Hab die Zeit sinnvoll genutzt. Und ich hab noch etwas besorgt, aber das testen wir nicht mehr heute", antwortete er.
„Du sprichst in Rätseln."
„Lass dich überraschen. Jetzt gibt es erst einmal Mittagessen."
„Okay", gab ich nach, denn mit der Sprache würde er eh nicht rausrücken.
Also freute ich mich einfach auf Sushi essen mit meinem Freund. Und irgendwie verspürte ich auch Vorfreude auf einen Abend mit Mats. Allerdings war ich skeptisch, was die anderen Anwesenden betraf, doch mit Wincent an meiner Seite konnte eigentlich nichts passieren.
Während des Essens redeten wir über meine Therapiestunde und er betonte immer wieder, wie stolz er auf mich war. Es gab mir ein gutes Gefühl zu wissen, dass es besser werden konnte. Und dass ich da nicht alleine durch musste. Ich hatte Katrin unterschrieben, dass Wincent alle Informationen bekommen durfte, denn ich war mir sicher, dass irgendwann der Punkt kommen würde, an dem ich nicht mehr konnte. Wo einmal erzählen schon fast zu viel war.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt