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Wincent

„Ja", gab ich zu. Das, was ich für Anna empfand, war genau dieses Gefühl, das in all den ganzen Lovesongs steckte.
„Moment mal." Die Kamera wackelte.
„Was tust du da?", fragte ich ihn.
„Ich suche einen roten Stift", kam eine etwas undeutliche Antwort aus dem Telefon.
„Warum?"
„Damit ich den heutigen Tag im Kalender markieren kann. Auf diesen Moment warte ich schon so lange..." Ich hörte ein Rascheln, Schubladen gingen auf und wieder zu, Schritte. „Ah, da ist er ja. Sorry, ich warte schon so lange, dass der ein bisschen verkramt war."
„Du hast einen Schaden", lachte ich.
„Ich?" Jetzt sah Marco mich durch die Kamera wieder richtig an. „Ich glaube, du verwechselst da etwas."
„Bro, du gehst jetzt nicht wirklich zum Kalender, oder?"
„Doch. Wozu hab ich denn noch einen in Papier am Kühlschrank hängen?"
Ich seufzte. Was hatte ich denn für Freunde, ey?
„So, erledigt. Jetzt hast du wieder meine volle Aufmerksamkeit. Ich setz mich aufs Sofa und du erzählst mal. Das war ja sicherlich noch nicht alles."
„Naja..."
„Wincent Weiss!"
„Was denn?"
„Du kannst mir nicht verkünden, dass du dich verliebt hast und es dabei belassen. Ich will alles wissen. Alles!"
Ich klemmte das Handy in die Halterung, schnallte mich an und startete den Motor.
„Okay, weil du es bist. Aber ich hab nicht so viel Zeit. Wir müssen dann später weiterreden."
„Wohin fährst du denn schon wieder?"
„Meinen Hoodie abholen", antwortete ich.
„Was? Wie? Hä?"                  
„Ich habe heute Morgen beim Gehen meinen Hoodie vergessen und den hole ich jetzt ab", erklärte ich Marco.
„Wo hast du den vergessen?"
Ich zögerte. „Bei Anna."
„Du sprichst in Rätseln. Ich dachte, du bist in Hamburg. Wie kannst du denn da deine Sachen bei Anna vergessen?" Marco war eindeutig verwirrt, was mich automatisch grinsen ließ.
„Wincent! Hör auf mich zu verarschen", kam es warnend.
„Ich mein das Ernst", sagte ich. „Oder genauer gesagt, hab ich den Hoodie bei ihrem Vater vergessen."
„Also, wenn du mich veralbern willst, dann such dir eine andere Story aus. Ich setz mich gleich ins Auto und dann reden wir in anderthalb Stunden da persönlich drüber."
„Okay, okay. Ich erklär es dir", sagte ich schnell.
Dann begann ich, Marco die ganze Geschichte mit Anna zu erzählen. Ich fing bei unserem ersten Treffen an und berichtete auch von ihrer Begegnung mit Mats und meiner Suche nach ihr. Marco hörte still zu und ich war mir nicht sicher, ob er noch folgen konnte. Allerdings konnte ich nicht aufs Handy schauen, denn der Stadtverkehr forderte mehr von meiner Aufmerksamkeit als mir lieb war.

Annalena

„Google, wie spät ist es?", fragte ich mein Handy zum gefühlt zwanzigsten Mal.
„Es ist 20 Uhr und 10 Minuten", lautete die Antwort.
Ich lief in meinem Zimmer auf und ab. Fritz winselte, denn mein Verhalten irritierte ihn. Gegessen hatte ich heute den ganzen Tag noch nichts und das, obwohl Steffi und mein Vater extra für mich Kartoffeln, Rührei und Spinat gekocht hatten. Ich bekam einfach keinen Bissen runter. Einerseits beschäftigte mich noch immer das Gespräch mit Steffi, dann war da die Aufregung und Vorfreude, Wincent wiederzusehen und als Kirsche auf der Sahne kam noch dazu, dass ich wieder einmal absolut kein Hungergefühl hatte. Allein der Gedanke an Essen löste, genau wie heute Morgen, Übelkeit in mir aus. Panikattacken, Diät, Stimmungsschwankungen. Alles wie vor zehn Jahren.
Ich hatte überlegt, nochmal mit Steffi drüber zu reden, aber dann hab ich mich doch nicht getraut. Sie war zwar eine super Freundin, aber ich wollte sie nicht schon wieder mit meinen Problemen belasten. Ich weiß, dass Steffi mir damals geholfen hat und dass auch jederzeit wieder tun würde, aber sie war nun einmal nicht für mich zuständig. Obwohl es sich manchmal so anfühlte, war sie nicht meine Mutter. Und außerdem war mein Körper mein Problem.
Es klopfte an meiner Zimmertür. „Anna?"
„Ja?"
„Darf ich rein?", fragte mein Vater.
„Ja."
Ich hörte seine Schritte und dann spürte ich, wie er sich aufs Bett setzte.
„Anna... Geht es dir gut? Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst. Ich mach mir Sorgen."
Der Tonfall meines Vaters brach mir fast das Herz und ich wollte ihm am liebsten direkt alles erzählen. Aber ich konnte es einfach nicht. Ja, er war mein Vater, aber ich war erwachsen. Mit 27 Jahren sollte ich ja wohl meine Probleme alleine gelöst bekommen.
„Ja, Papa. Es ist alles okay. Ich red mit dir, wenn ich soweit bin, okay?"
„Okay. Ich hab dich ganz doll lieb."
„Ich dich auch, Papa."
Er zog mich in eine feste Umarmung und ich drückte ihn an mich. Ich hatte meinen Vater vermisst. Wahrscheinlich sollte ich häufiger nach Hamburg fahren.
„Ich geh nochmal kurz mit Fritz raus", sagte ich irgendwann.
„Okay. Nimm bitte dein Handy mit."
„Mach ich immer, Papa."
„Ich weiß." Er drückte mir noch einen Kuss aufs Haar und ließ mich dann los. „Bis später."
„Bis dann."
Ich wartete, bis ich die Tür im Schloss hörte und schickte Wincent dann eine Nachricht.
„Wir treffen uns vor der Haustür."
Dann zog ich seinen Hoodie an, rief nach Fritz und ging mit ihm in den Flur. Ich schlüpfte in meine Schuhe, nahm die Tasche mit den Leckerlis, leinte Fritz an und verließ mit meinem Handy und meinem Schlüssel in der Tasche die Wohnung. Im Treppenhaus checkte ich noch einmal die Uhrzeit. Wincent hatte noch einige Minuten, also konnte ich ganz entspannt nach unten gehen.
Ich lehnte mich neben der Haustür an die Wand und genoss einfach die frische Luft. Zumindest bis Fritz zu bellen anfing.
„Was ist denn mit dir los?", fragte ich ihn, doch er ignorierte mich einfach.
Ich bekam einen Verdacht.
„Na du?", hörte ich eine mir bekannte Stimme.
Das erklärte, warum mein Hund wieder einmal nicht auf mich hörte. Der war einfach verrückt nach Wincent.
„Hast du mich so sehr vermisst?", fragte Wincent meinen Hund und ich musste grinsen. „Ja, ich dich auch."
Dann endlich bekam ich auch mal Aufmerksamkeit.
„Hey Anna."
„Hi."
„Schicker Hoodie." Ich hörte sein Grinsen.
„Danke. Ich mag ihn auch."
„Wenn du ihn behalten willst, müssen wir uns halt nochmal treffen."
„Wäre das so schlimm?"
„Nein. Im Gegenteil. Aber wir treffen uns doch auf jeden Fall nochmal. Selbst, wenn ich meinen Hoodie nachher zurück bekomme."
„Das stimmt. Im Moment will ich ihn noch haben, wenn ich darf."
„Natürlich darfst du."
„Wincent?", fragte ich zögernd.
„Ja?"
„Hast du noch kurz Zeit für einen Spaziergang? Ich... ich würde dir gerne..." Verdammt! Sprich es doch einfach aus. „... etwas erzählen."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt