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Annalena

„Nanu? Hab ich jetzt Verstärkung bekommen?", fragte Manu mich und ich zuckte kurz erschrocken zusammen.
„Sorry", murmelte ich. „Ähm, ich kann kein Klavier spielen. Mach du das mal besser."
„Du könntest es ja lernen", schlug Manu mir vor.
„Ich weiß nicht."
„Denk einfach drüber nach, wenn du willst."
Irgendwie würde es mich schon reizen, ein Instrument spielen zu können. Ich lernte schon so viel von Wincents Welt kennen, da wäre es eigentlich das perfekte Dankeschön. Vielleicht auch ein tolles und einzigartiges Geschenk.
„Geht das wirklich? Also Klavier lernen?", überwand ich mich dann zu fragen.
„Natürlich."
„Ohne, dass Wince das mitbekommt?"
„Das sollten wir hinbekommen", versicherte mir Manu. „Wenn du magst, kannst du nach dem Soundcheck kurz mal das Piano ausprobieren und dann überlegen wir gemeinsam, welches ich dir nach der Tour ausleihen kann."
„Danke."
„Nicht dafür. Willst du hier sitzen bleiben?"
„Wenn ich darf, gerne."
„Natürlich. Setz dich am besten auf meine rechte Seite. Auf der Kante vom Podest müsstest du sicher sein."
Ich setzte mich hin und lauschte dann dem Soundcheck der Jungs. Anschließend wurde Wincent von Mats zum Videodreh abkommandiert und das war meine Gelegenheit. Manu und ich blieben alleine auf der Bühne zurück und er half mir auf.
„Kann man wirklich einfach so spielen?", wollte ich wissen, denn ganz sicher war ich mir bei meiner Idee dann doch nicht.
„Klar kann man das. Setz dich und dann probieren wir ein bisschen was aus."
„Hilfst du mir?"
Manu nahm meine Hand und führte mich zum Klavier. Ich setzte mich hin und fuhr mit den Fingern über das Instrument.
„Hast du schon mal Klavier gespielt?", wollte Manu wissen.
„Nein. Hab mich nur mehrmals mit einem angelegt", gab ich zu.
„Wie das denn?"
„Als Kind hatte ich einen absoluten Lieblingsplatz und immer mal wieder stand auf der einen Seite des Tunnels ein Klavier im Weg. Nur leider habe ich das nicht sehen können und in der Regel zu spät gemerkt."
„Oh je", kommentierte Manu. „Meinst du, du könntest dich mit Klavieren versöhnen?"
„Vielleicht", antwortete ich. „Vorausgesetzt, ich hab eine reale Chance, spielen zu lernen."
„Wieso solltest du nicht?"
Ich zögerte kurz. „Weil ich keine Noten lesen kann... und die Tasten nicht sehe."
Automatisch hielt ich die Luft an und wartete auf Manus Reaktion.
„Da finden wir eine Lösung", antwortete er und ich war vollkommen baff.
„Wie...?"
„Es gibt immer einen Weg, Anna. Und wenn du Klavier lernen willst, dann überlege ich mir etwas."
Manu wollte mir Klavier spielen beibringen? Obwohl ich blind war? Er wollte sich etwas überlegen, damit es klappte? Träumte ich schon wieder? Noch nie hatten sich andere Menschen so sehr an meine Einschränkung angepasst und ich wusste langsam nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte.
„Danke", erwiderte ich also leicht überfordert.
Es gab einen Ton und kurz zuckte ich zusammen, obwohl es nicht laut war.
„Spürst du, welche Taste unten ist?", fragte mich Manu und ich fuhr mit dem Finger über die Tasten.
„Ja", sagte ich, als ich an der Stelle ankam, wo es quasi ein Loch gab.
„Leg mal deinen Finger drauf, aber ohne Kraft auszuüben."
Ich tat, was er sagte.
„Okay und jetzt mit Kraft..."
Ein Ton erklang, der gleiche wie davor auch schon. Nur, dass ich dieses Mal dafür verantwortlich war.
„Das ist ein c", erklärte mir Manu. „Es liegt quasi mittig auf der Klaviatur und bietet immer eine gute Orientierung. Ein c findest du immer dann, wenn du rechts davon zwei schwarze Tasten hast, also zwei erhöhte."
Ich versuchte mir die Erklärungen zu merken.
„Wenn du mit deinem Finger höher wanderst, dürftest du nichts spüren außer der Taste. Wenn du jetzt aber weiter nach rechts rutscht, dann müsstest du auf eine Art kleine Wand stoßen. Das ist eine schwarze Taste."
„Wie klingt die?"
„Probier es aus."

Wincent

Ich war absolut kein Fan von TikTok-Drehs, obwohl sie meistens schon irgendwie Spaß machten. Dennoch war ich ziemlich glücklich, als er mich endlich entließ. Ich begab mich auf die Suche nach meiner Freundin und fand sie schließlich im Backstage an einem Tisch sitzen. Und sie war nicht alleine, denn Amelie und meine ganze Band leisteten ihr Gesellschaft.
„Was ist denn hier los?", fragte ich verwirrt, denn der Anblick, der sich mir bot, war ziemlich eigenartig.
Amelie hatte eine Stoppuhr auf dem Handy laufen und Flo und Manni verbundene Augen. Auf dem ganzen Tisch lagen die Holzbuchstaben, mit denen Anna und ich den ganzen Vormittag verbracht hatten.
„Psst", sagte Manu an mich gewandt. „Die müssen sich konzentrieren", fügte er noch leise hinzu.
Ich setzte mich neben Anna auf die Bank und sah zu, wie mein Schlagzeuger und mein Bassist die Buchstaben drehten und wendeten.
„Was macht ihr hier?", fragte ich Anna leise.
„Die haben eine Challenge ausgerufen", erklärte sie. „Wer kann am schnellsten blind ein vorgegebenes Wort legen."
„War das deine Idee?"
„Ne, Amelies. Ich wollte eigentlich nur schauen, wie viel ich mir gemerkt habe."
Ich musste grinsen, denn das war so typisch meine beste Freundin. Gut, so waren die Jungs scheinbar alle ziemlich beschäftigt.
„Fertig", verkündete Flo erleichtert und nahm die Augenbinde ab.
„Danke für die Rettung", seufzte Manni und tat es ihm gleich.
„So. Wartet... Jetzt die Sieger gegeneinander, oder? Das wäre dann Benni gegen Anna. Die hatten die besten Zeiten bisher", verkündete Amelie.
„Hier Benni." Flo warf meinem Gitarristen die Augenbinde zu. „Viel Erfolg."
„Seid ihr bereit?", wollte Amelie wissen.
„Ja", antworten Benni und Anna gleichzeitig.
„Okay, das Wort lautet... ‚Crew' und los geht's in 3, 2, 1, 0!"
Alle schwiegen und beobachteten den Wettkampf. Noch nie war es vor einer Show so ruhig wie heute. Man hörte nur die letzten Arbeiten, die noch erledigt wurden und dann die ersten Fans, die auf den Platz strömten. Hier interessierte das heute aber ausnahmsweise niemanden. Viel zu sehr waren wir von dem Battle hier gefesselt. Anna war im Endeffekt eine Zehntelsekunde schneller als Benni, der das aber ziemlich locker hinnahm.
„Leute, ich brauch ein kühles Bier", verkündete mein Gitarrist und die Runde lachte.
„Ich hol eine Runde für alle", meinte Manu und stand auf.
Flo folgte ihm, um beim Tragen zu helfen. Zurück kamen sie dann mit sieben Flaschen Jever, die dankend angenommen wurden.
„Gibt's etwas zu feiern?", fragte Mats und kam zu unserer Runde dazu.

Bin ich für sie blind? Nơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ