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Wincent

Als Anna und ich sehr spät abends in ihrem Bett lagen, konnten wir beide nicht einschlafen. So viel war passiert in den letzten Tagen, das verarbeitet werden musste.
„Weißt du, was mir gerade bewusst geworden ist?", fragte Anna irgendwann in die Dunkelheit.
„Was denn?", wollte ich wissen.
„Ich bin ohne leibliche Mutter aufgewachsen und du ohne Vater. Und jetzt hab ich plötzlich zwei Mütter und du einen Vater. Und eine zweite Mutter."
„Stimmt", erwiderte ich. „Hab ich nie drüber nachgedacht. Aber ich bin mehr als glücklich darüber."
„Ich auch", lächelte sie. „Das Leben ist manchmal echt verrückt."
„Ja. Doch weißt du, was das wichtigste dabei ist?", fragte ich.
„Was denn?"
„Dass wir uns beide haben."
„Und dass wir uns nie wieder loslassen, okay?"
„Versprochen." Ich gab Anna noch einen Kuss und dann schliefen wir irgendwann dann doch ein.
Der nächste Morgen startete mit einem entspannten Frühstück. Dafür, dass der gestrige Abend noch sehr lang wurde, waren wir heute alle ziemlich wach. Bei mir lag es ganz eindeutig daran, dass Anna heute endlich ihr Geschenk bekam und ich ein wenig nervös war. Gestern hatte ich in einer ruhigen Minute schon Tim eingeweiht und er war ziemlich baff, hatte mir aber gut zugeredet. Anna würde sich sehr freuen, meinte er und ich hoffte, er irrte sich nicht. Es war schon ziemlich gewagt, aber ich konnte nicht anders. Nach dem Essen räumten wir gemeinsam den Tisch ab und dann machten wir uns fertig. Tim und Steffi begleiteten uns zur Abholung von Annas Geschenk. Wir fuhren mit zwei Autos, denn Anna und ich würden dann direkt zu ihr fahren. Immerhin waren wir zur Abholung in der Nähe von Berlin. Auf der Fahrt versuchte sie herauszufinden, was ich geplant hatte, aber das verriet ich nicht.
„So, da sind wir", verkündete ich schließlich und stellte den Motor ab.
„Wo sind wir?"
„Da, wo wir dein Geschenk abholen. Komm."
Wir stiegen aus und sofort wurde ich noch aufgeregter. Ich freute mich einfach schon so lange auf diesen Moment und jetzt war er gekommen.
„Wince? Wo sind wir, dass hier so viele Hunde sind?", fragte Anna, als ich Fritz gerade aus dem Auto geholt hatte.
„Und was machen wir hier?", fügte sie noch hinzu.
„Wir holen immer noch dein Geschenk ab", antwortete ich und nahm ihre Hand.
„Einen Hund?", fragte sie ungläubig.
„Aber nicht irgendeinen, sondern deinen neuen Begleithund. Oder besser gesagt deine neue kleine Begleithündin."
„Du bist doch verrückt."
„Manchmal vielleicht ein bisschen", gab ich zu. „Also, bist du bereit?"
„Auf jeden Fall." Sie strahlte mich förmlich an.
„Geht ihr mal, wir warten mit Fritz hier auf euch", sagte Tim und nahm mir die Leine ab.
Ich griff nach Annas Hand und gemeinsam gingen wir rein. So langsam kannte ich mich hier aus und wusste genau, wo wir langgehen mussten. Ich führte Anna durch die Gänge, vorbei an ganz vielen Hunden, bis ich endlich dort war, wo ich hinwollte. Die kleine Hündin sah mich schon aufgeregt mit großen Augen an und wedelte mit dem Schwanz.
„Hallo, meine Kleine. Na, alles gut?", fragte ich und öffnete die Tür. „Komm, Anna. Ich will dir jemanden vorstellen."
Gemeinsam gingen wir auf die Hündin zu und ich verschloss die Tür wieder. Erst einmal sollten die beiden sich in Ruhe kennenlernen.
„Anna, das ist Lou. Lou, das ist Anna, dein neues Frauchen", stellte ich vor.
Ich stellte mich an den Rand und sah den beiden zu. Anna streckte ihre Hand aus und Lou kam neugierig näher und schnupperte. Sie schien überhaupt nicht schüchtern zu sein und ließ sich von Anna streicheln. Ich sah den beiden beim Kennenlernen zu und musste sofort grinsen. Sie schienen sich direkt zu verstehen und das machte mich umso glücklicher. Ich hatte mich auch sofort in Lou verliebt, als ich das erste Mal hier war und Anna schien es auch so zu gehen. Ich sah den beiden noch weiter zu, hielt mich aber bewusst im Hintergrund.
„Na?", unterbrach mich irgendwann jemand und als ich mich umdrehte, sah ich Tim vor mir stehen.
„Wieder zurück?"
„Ja. Und bei euch?"
„Alles gut soweit. Ich war nach kurzer Zeit abgemeldet."
Tim grinste. „Na ja, beste Voraussetzung, oder?"
„Ja, definitiv."
„Du hast ja noch Fritz."
„Das stimmt."
„Habt ihr Hunger?", mischte sich Steffi ein.
„Ich schon", sagte ich und sah zu Anna.
Sie war aber noch ganz in ihr Spiel mit Lou vertieft. Mein Blick wanderte zu Tim und Steffi, die Anna genauso belustigt beobachteten wie ich.
„Ich glaube, so schnell bekommen wir die zwei nicht getrennt", merkte Tim an.
„Wie gut, dass wir Lou mitnehmen", erwiderte ich.

Annalena

Während ich hier auf dem Boden saß, mit Lou auf dem Schoß, war ich Wincent einfach nur unendlich dankbar. Ja, er war ein wenig verrückt, aber das hier war ein traumhaftes Geschenk. Ich hatte nie über einen neuen Hund nachgedacht, aber ich wollte Lou nie wieder loswerden. Nicht, dass jemand Fritz ersetzen konnte, aber sie hatte sich schon irgendwie in mein Herz geschlichen.
„Anna?", unterbrach mich Wincent irgendwann.
„Ja?" Ich drehte mich zu ihm um.
„Hast du Hunger? Wir würden dann mal langsam losgehen."
„Mhm."
„Keine Sorge, Schatz. Wir nehmen Lou mit", sagte er und ich hörte sein Grinsen ganz deutlich.
Also stand ich auf und spürte im nächsten Moment zwei kleine Pfoten auf meinen Schienbeinen. Scheinbar war da noch jemand mit der Störung unzufrieden, was mich automatisch grinsen ließ.
„Ihr zwei seid also jetzt schon unzertrennlich, ja?", fragte Steffi.
„Natürlich. Endlich mal weibliche Verstärkung", erwiderte ich und sorgte mit dieser Aussage dafür, dass alle lachen mussten.
Wincent reichte mir eine Leine und ich klickte den Karabiner an Lous Halsband. Aufgeregt sprang sie auf und ab, scheinbar kannte sie das schon.
„Lou, beruhig dich. Ich weiß, du magst das Training, aber du musst heute ganz lieb sein", sagte mein Freund und augenblicklich stand die Leine still.
„Wow", entfuhr es mir.
„Reine Übungssache", antwortete er lächelnd. „Hat mich viele Nerven gekostet, aber die waren es definitiv wert."
Wincent nahm meine Hand und gemeinsam verließen wir Lous aktuelles Zuhause. Mein Vater hatte noch Fritz und scheinbar kannten sich die beiden Hunde. Normalerweise hasste Fritz andere Hunde in meiner Nähe, aber Lou schien in Ordnung zu sein. Wir liefen ein ganzes Stück durch den Wald und ich stellte fest, dass Wincent wirklich viel mit Lou geübt haben musste. Sie lief jetzt nicht so fehlerfrei wie Fritz, aber die beiden hatten auch einen minimalen Altersunterschied.
„So, da sind wir", verkündete Wincent. „Lou, ab jetzt ist Neuland. Am besten schaust du, was Fritz macht."
„Wincent, nimm du ihn ruhig", sagte mein Vater.
„Okay. Fritz, du bist jetzt wieder das Vorbild. Enttäusch mich bitte nicht", hörte ich meinen Freund sagen.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt