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Wincent

Ich wusste nicht, ob ich den Anruf annehmen sollte oder nicht. Aber im Endeffekt ging es mich nichts an, weswegen ich mich dagegen entschied. Nicht, dass ihr Vater noch einen Schreck bekam, weil nicht seine Tochter dran war.
Noch immer quälte mich die Frage, was ich mit Anna tun sollte. Einfach gehen konnte ich nicht, aber wieder zu spät am Set auftauchen war auch unmöglich. Eigentlich.           Mein Herz siegte an dieser Stelle und so beobachtete ich sie noch ein wenig. Als sie sich bewegte, hoffte ich irgendwie, dass sie wach wurde.
„Ausgeschlafen?", fragte ich leise, als sie die Augen öffnete.
„Mhm", kam es noch verschlafen zurück.
„Anna?", versuchte ich es nochmal, damit sie nicht direkt wieder einschlief.
„Ja?"
„Dein Vater hat angerufen."
Jetzt schien sie etwas wacher zu sein, sah aber immer noch nicht wieder richtig fit aus.
„Was wollte er?"
„Keine Ahnung. Ich geh nicht einfach so an dein Handy."
„Stimmt." Sie setzte sich auf. „Hätte ihn wahrscheinlich irritiert. Immerhin weiß er ja von nichts."
„Du hast ihm nichts erzählt? Gar nichts?", hakte ich ungläubig nach.
Sie schüttelte den Kopf. „Nur Steffi ahnt etwas. Also, weil wir da waren, aber sie hält den Mund."
„Und wieso hast du deinem Vater nichts gesagt?"
Gut, meine Mutter wusste auch kein einziges Wort, aber ich hatte seit dem Kennenlernen von Anna weder mit ihr geschrieben, noch gesprochen. Das stand als Nächstes auf dem Plan. Zuhause war ich seit vor der Tour nicht mehr.
„Ich..." Unsicher begann Anna ihre Hände zu kneten.
„Du musst es auch nicht sagen", warf ich direkt ein, denn ich wollte sie auf keinen Fall unter Druck setzen.
„Ich wollte mir erst sicher sein", gab sie zu. „Ich meine, bisher gab es in meinem Leben nur drei Männer. Und das waren Papa, Opa und Fritz."
„Keinen Ex?"
„Nein." Obwohl sie das locker aussprach, spürte ich ihr Unbehagen.
Aber es schien mir nicht so, als wäre ihr die Tatsache unangenehm, dass sie noch nie eine Beziehung geführt hatte. Irgendwie steckte mehr dahinter. Doch es war zu früh und ich hatte eigentlich keine Zeit, noch weiter nachzufragen.
„Vielleicht rufst du deinen Vater mal an", schlug ich vor, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen.
„Mach ich. Gibst du mir das Handy?"
Ich nahm es vom Nachttisch und reichte es ihr.
Während sie mit ihrem Vater sprach, ging ich ins Wohnzimmer, um ihr die nötige Privatsphäre zu geben. Außerdem wollte ich mich nicht aus Versehen verraten.
Fritz leistete mir Gesellschaft, sodass ich mir nicht ganz so fehl am Platz vorkam. Irgendwie war es ein seltsames Gefühl. Wir waren kein Paar und dennoch war ich hier. Mit ihr. In der Wohnung ihres Vaters. Der rein gar nichts von meiner Existenz wusste. Und ich war bei Anna, als es ihr schlecht ging.
„Wincent?", hörte ich ihre zarte Stimme aus dem Flur.
„Bin im Wohnzimmer", sagte ich.
Im nächsten Moment erschien sie im Türrahmen.
„Alles gut?", fragte ich und stand auf.
„Ja. Steffi holt Papa ab und kommt dann her", erklärte sie und ging zum Sofa.
Fritz ging vorsorglich aus dem Weg und ich setzte mich neben Anna. Fritz sprang aufs Sofa und legte sich auf meine andere Seite. Ich spürte sein Fell an meiner Hose und hoffte, dass ich nach diesem Morgen nicht zu viele Hundehaare an meinen Klamotten hatte. Das würde wieder Stress in der Maske geben.
Anna tastete nach meiner Hand und lehnte sich dann gegen meine Schulter. „Musst du nicht zum Dreh?", fragte sie nach einigen Minuten leise.
„Ja", gab ich leise zu. „Aber nur, wenn ich dich mit Fritz alleine lassen kann."
„Kannst du. Mir geht es besser, dank dir."
„Sicher?"
„Ja."
„Okay." Ich wollte nicht gehen, aber irgendwann musste ich. Selbst wenn ich mal wieder die Höchstgeschwindigkeit ignorierte, würde es knapp werden, pünktlich zu kommen.
„In der Küche ist Kräutertee. Direkt neben dem Kühlschrank, damit du es findest", erklärte ich Anna noch.
„Danke."
„Und wenn etwas ist, schreib oder ruf an, okay? Ich hab genug Pausen am Set."
„Okay. Danke. Das bedeutet mir viel."
Ich küsste sie auf die Stirn und zog sie nochmal in eine feste Umarmung.

Annalena

So ungern ich Wincent von seinem Job abhalten wollte, ich hätte ich gerne hier behalten. Wieder alleine zu sein, machte mir mehr Angst, als ich zugeben wollte.
Ich genoss die Umarmung in vollen Zügen und am liebsten hätte ich ihn nie wieder losgelassen. Doch mir war bewusst, dass Wincent nicht mehr lange bei mir bleiben konnte. Dass es überhaupt noch geblieben war, konnte ich niemals wieder gutmachen.
„Du musst los, oder?", murmelte ich an seiner Brust und löste mich ein wenig aus seiner Umarmung.
„Ja", sagte er leise, klang aber genauso unglücklich, wie ich mich fühlte.
„Ich melde mich später, okay?"
„Bitte."
„Versprochen." Ich löste mich komplett von Wincent, auch wenn es mir super schwer fiel. „Viel Spaß am Set."
„Danke. Pass auf dich auf."
„Mach ich."
Ich bekam noch einen Kuss, diesmal auf die Wange. Dann stand Wincent auf und ich hörte, wie im nächsten Moment Hundepfoten auf dem Parkett landeten.
„Tschüss, mein Kleiner. Pass auf dein Frauchen auf, ja?", sagte Wincent an Fritz gewandt und dann entfernten sich seine Schritte in Richtung Flur.
Ich stand vom Sofa auf und folgte ihm, denn irgendwie kam ich mir doof vor, wenn ich sitzen blieb. Mein Hund war wohl auch nicht so begeistert von der Situation, denn er strolchte um meine Beine und dann war er kurz weg. Danach kam er zurück. Vermutlich lief er auch um Wincent herum, der versuchte, seine Schuhe anzuziehen.
„Fritz, lass Wincent bitte zur Arbeit", sagte ich an ihn gewandt.
Er winselte und setzte sich dann brav neben meine Füße. Wenigstens vertrat er die gleiche Meinung wie Wincent und ich. Und obwohl wir drei uns einig waren, ging es nicht. Er musste ans Set und wir auf meinen Vater warten.
Als die Tür hinter Wincent ins Schloss fiel, fühlte ich mich wieder komplett leer. Schnell suchte ich nach meinem Handy und öffnete Spotify, um ja nicht wieder in mein Loch zu fallen. So sollte mein Vater mich nicht vorfinden. Natürlich war ‚Auf halbem Weg' der erste Song. Ich setzte mich aufs Sofa, kuschelte mich unter eine Decke, die dort immer lag und lauschte Wincents Stimme. Direkt danach kam ‚Wunder gesehen' und im Anschluss ‚Kaum erwarten'. Heute legte Spotify es echt drauf an, mich zum Heulen zu bringen. Wenigstens dachte ich so an Wincent und nicht an meine Vergangenheit.
„Anna? Wir sind da!" Steffis Stimme riss mich aus meinen Tagträumereien.
„Bin im Wohnzimmer", antwortete ich und hoffte inständig, dass man mir mein aktuelles Gefühlschaos nicht direkt ansah.
Ich hörte Schritte und das Fluchens meines Vaters. Sehr wahrscheinlich machte ihm sein Bein noch zu schaffen. Das waren ja tolle Aussichten. Ein indisponierter Vater, der Unterstützung von seiner blinden Tochter hat. Das konnte ein sehr unterhaltsamer und peinlicher Roman werden.
Ich zog meine Beine näher an mich, als ich hörte, dass sie im Wohnzimmer waren. Im nächsten Moment gab die Couch ein wenig nach, weil mein Vater sich setzte.
„Hallo Papa", sagte ich und sah in die Richtung, in der er sitzen musste.
„Hallo Schatz", antwortete er und zog mich in eine Umarmung.
Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht direkt wieder in Tränen auszubrechen.
Obwohl ich meinen Vater liebte, war ich froh, als ich nicht mehr in seinen Armen lag.
„Ich mach euch mal eine Kleinigkeit zum Essen, ja?", fragte Steffi und ich nickte.
Hoffentlich konnte ich das essen. Sonst kam ich spätestens heute Abend in Erklärungsnot. Meinem Vater würde das direkt auffallen. Verdammt ey.
„Ich helfe dir. Nur herumsitzen ist nichts für mich", meinte mein Vater und erhob sich wieder.
Dafür sprang Fritz zu mir und kuschelte sich an mich. Wir vermissten sehr wahrscheinlich ein und dieselbe Person.
„Sag mal, Anna?", kam kurze Zeit später die Stimme meines Vaters aus der Küche.
„Ja?"
Ich hörte, wie er sich zurück ins Wohnzimmer schleppte.
„Seit wann hast du denn einen schwarzen Hoodie in Größe L?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now