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Annalena

„Ähm..."
„Wince... Jacke und Schuhe an!", sagte ich lachend und nahm ihm auf gut Glück die Leine aus der Hand.
„Fertig", verkündete er fünf Minuten später.
Hoffentlich hatte er vernünftige Sachen an. Vermutlich sah seine Augenbinde schon auffällig genug aus.
So gingen wir raus, wobei Wincent natürlich einige Versuche brauchte, um die Tür abzuschließen. Er selbst fand das aber auch witzig, sodass wir gemeinsam lachend vor seiner Wohnungstür standen und Fritz irgendwann empört bellte. Er wollte halt raus.
„Ich geh schonmal runter", sagte ich an Wincent gewandt. „Dann klappt das mit der Tür vielleicht auch."
Das alles erinnerte mich ein wenig an meine ersten Versuche, etwas abzuschließen. Da war ich allerdings sechs Jahre alt und nicht dreißig.
„Warte. Ich hab es." Wincent klang wirklich erleichtert.
„Achtung Treppenstufen. Nicht, dass du fällst", warnte ich ihn.
„Danke."
„Ich glaub, du solltest heute mal Fritz nehmen. Sonst gibt es Verletzte", sagte ich und drückte ihm wieder die Leine in die Hand.
„Fritz", wandte ich mich anschließend an meinen Hund. „Sei lieb und helf Wincent."
Er bellte kurz auf und damit war das wohl von seiner Seite aus abgenickt.
Langsam gingen wir die Stufen nach unten. Wincent nahm das Geländer als Orientierung dazu und ich hielt mich an seinem Arm fest. In der Hand hielt er ja die Leine.
Unten auf dem Gehweg nahm Wincent dann meine Hand in seine. Ob er jetzt mir damit half oder andersherum, blieb offen. Auf jeden Fall konnte es jetzt nur interessant werden. Zwei Blinde und einer davon ein tollpatschiger, aber absolut liebenswerter Trottel.
„Wer ist ein Trottel?", wollte Wincent wissen.
Shit, ich hatte wohl laut gedacht.
„Niemand", antwortete ich schnell. „Wo müssen wir lang?"
„Wenn wir... ähm... rechts, ach ne das andere rechts. Ähm... wenn wir links abbiegen, dann... warte... rechts und einige Meter dann geradeaus, kommen wir in einen Park. Glaub ich." Er lachte und es war so ansteckend, dass ich auch anfing.
„Dann probieren wir das mal aus", schlug ich vor, nachdem wir uns beruhigt hatten.
„Sorry schon einmal vorab. Ich hab nicht gerade den besten Orientierungssinn."
„Danke, dass du das jetzt erst sagst."
„Wir haben doch Fritz. Und zwei Handys mit Navigation", konterte Wincent.
Ich schüttelte den Kopf und dann machten wir uns auf den Weg zum Park. Vorausgesetzt, Wincent lag mit seiner Wegbeschreibung richtig. Wenn nicht, liefen wir einfach ziellos durch München. Vermutlich würden wir erst ziemlich spät merken, dass wir gar nicht dort waren, wo wir hinwollten.
„Wince?"
„Ja?"
„Wie sicher bist du dir, dass wir den richtigen Weg finden?"
„Ähm... so fünfzig fünfzig..."
„Wann warst du das letzte Mal dort?"
„Puh... Als ich Zeit hatte, Skateboard zu fahren", gab er leicht lachend zu.
Okay, es wurde nicht besser.
Aber es war mir egal und Wincents Lachen war leider sehr ansteckend. So standen wir also irgendwo in München und lachten einfach.
„Alles gut bei euch?", fragte jemand und ich konnte nur nicken.
„Also, wenn ihr über die Straße wollt, die Ampel ist gerade grün."
„Danke", antwortete Wincent.
„Müssen wir da lang?"
„Ich glaub schon."

Wincent

Niemals hätte ich gedacht, dass ich mal freiwillig beim durch die Stadt laufen die Klappe halten würde. Normalerweise unterhielt ich mich gerne mit den Leuten, die mich begleiteten, aber heute war das unmöglich.
„Wince? Alles gut?", fragte Anna nach einer ganzen Weile.
„Ja", brachte ich mühsam hervor. „Aber wie machst du das immer?"
„Was?"
„Naja, durch die Stadt laufen. Das ist ja mal mega anstrengend, wenn man nichts sieht. Diese ganzen Eindrücke... Ich bin vollkommen überfordert", gab ich zu.
„Du gewöhnst dich dran", versuchte Anna mich zu beruhigen. „Ich weiß, dass das jetzt blöd klingt, aber im Grunde ist das alles. Also plus die Hilfe durch entweder andere Personen oder Fritz. Dafür hab ich ihn ja."
„Ich check nur absolut nicht, was er will."
Ein wenig kam ich mir wie der dümmste Mensch auf Erden vor. So oft war ich schon mit Hunden unterwegs gewesen, hauptsächlich mit Bailey, dem Hund meiner besten Freundin Amelie. Und doch war ich heute genauso ahnungslos wie ein Kleinkind, das gerade die Welt entdeckte.
„Du musst dich mit Fritz connecten. Das braucht manchmal eine Weile."
Ich antwortete nichts, sondern versuchte im ganzen Verkehrslärm herauszufinden, wo wir waren. Beziehungsweise, ob wir schon die nächste Kreuzung erreicht hatten oder nicht.
„Ich glaube, hier kommt eine Querstraße", warnte ich Anna vor und blieb vorsichtshalber stehen.
Mit einem Fuß tastete ich mich vor und als ich eine Kante spürte, ging ich wieder rückwärts. Hier war also wirklich noch die Straße, die ich im Kopf hatte. Blöderweise gab es hier nur keine Ampel, was es schwieriger machte.
Wir schafften es irgendwie rüber und erreichten tatsächlich den Park.
„So, wir haben es geschafft", verkündete ich.
„Sehr gut." Anna applaudierte kurz.
„Lass uns mal eine Runde hier drehen und dann wieder zurück."
„Klingt nach einem Plan. Willst du kurz Pause machen?"
„Ne. Lass uns mal weiter gehen. Hier ist ja ein kleines bisschen ruhiger."
Gesagt, getan. Tatsächlich empfand ich es hier im Park einfacher, blind zu sein. Allerdings gab es hier auch keine Autos, sondern lediglich kleine Unebenheiten im Boden oder genervte Radfahrer.
Ich bildete mir ein, dass wir fast wieder an meiner Wohnung waren, als mein Handy klingelte. Eigentlich wollte ich nicht rangehen, aber Anna nahm mir die Leine von Fritz aus der Hand.
„Geh ruhig ran. Vielleicht ist es ja wichtig."
Ich kramte also mein Telefon aus der Hosentasche hervor und nahm den Anruf an.
„Weiss", meldete ich mich, da ich ja nicht sehen konnte, wer am Telefon war.
„Wince?"
„Ja."
„Alles gut bei dir?"
Ich grübelte, wer am anderen Ende war.
„Mats?", riet ich dann.
„Ja. Geht's dir gut?"
„Ja. Alles bestens."
„Du klingst irgendwie... komisch."
„Erklär ich dir morgen. Warum rufst du an?"
„Ich weiß, du wolltest einen freien Tag, aber hast du, beziehungsweise habt ihr Bock, dass wir heute Abend zusammen etwas essen?"
Ich dachte kurz nach. Blind essen? Mit Mats? Der Mann, der alles festhält und ein super Auge für besondere Momente hat? War das eine gute Idee? Wollte ich das Risiko eingehen?
„Vorsicht, Wince!" Anna zog etwas an meinem Arm.
„Was?", fragte ich und trat einen Schritt näher zu ihr, um nicht über meine eigenen Füße zu fallen.
„Da war eine Laterne."
„Woher weißt du das?"
„Wince? Bist du noch da?"
„Ja, Mats. Bin da."
„Also, was ist mit heute Abend?"
„Ich frag kurz Anna. Warte.
„Ich dachte, das hättest du gerade gemacht."
„Ne", gab ich zu. „Warte kurz."
„Anna?"
„Ja?"
Ich zuckte kurz zusammen, da ich nicht erwartet hatte, wie nah sie neben mir war.
„Mats fragt, ob wir nachher zusammen Essen wollen."
„Wenn du willst, gerne."
„Okay. Mats?"
„Wince?"
„Ja."
„Was?" Mats schien nicht so ganz zu wissen, was er von diesem doch ein wenig seltsamen Telefonat halten sollte.
„Wir können gerne zusammen essen. Kommst du einfach vorbei und wir kochen?"
„Klingt gut. Ähm, achso. Bevor ich es vergesse. Ich hab hier noch Jever...."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt