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Wincent

Dieses eine Mal sehnte ich mir das Ende des Konzertes herbei. Ich hoffte so sehr, dass mein Plan aufging und wollte wissen, wie es bei Anna ankam, was ich mir da mit meinem Team überlegt hatte. Normalerweise ging ich direkt nach der Show duschen, aber heute sprang ich neben der Bühne auf und ab und wartete, bis alle Fans draußen waren. Dann lief ich über den Platz zu meiner Freundin, die gerade von Johannes entkabelt wurde. Ich war tatsächlich auch noch verkabelt, fiel mir auf, aber das war egal.
Sobald Johannes fertig war, zog ich Anna in meine Arme.
„Du bist absolut verrückt", murmelte sie an meiner Brust. „Aber genau deshalb liebe ich dich."
„Und ich liebe dich", erwiderte ich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf.
„Wince! Dein Monitoring!", rief Nico über den ganzen Platz und ich löste mich widerwillig von Anna.
„Sorry", murmelte ich.
„Schon gut. Ich glaub, du musst eh duschen", erwiderte sie lächelnd.
„Das hat dich doch bis eben auch nicht gestört."
„Tut es auch nicht. Aber du musst sowieso nach hinten. Außerdem schadet eine Dusche ganz bestimmt nicht nach so einem Abend."
„Okay", gab ich nach. „Kommst du mit?"
„Nach hinten auf jeden Fall", antwortete sie und gemeinsam entfernten wir uns vom FOH, wo die Jungs fleißig am Abbauen waren.
„Duschen nicht?", fragte ich Anna, als wir außer Hörweite waren.
„Das kannst du doch bestimmt alleine oder willst du mir erzählen, du hast nach den letzten Konzerten nicht geduscht?"
Ich liebte Annas Schlagfertigkeit, aber manchmal trieb sie mich damit auch in den Wahnsinn. Doch ich beließ es heute dabei, denn ich hatte einfach zu gute Laune.
„Okay. Dann geh ich halt alleine."
„Bis gleich."
Ich lief zu Nico und befreite mich auf dem Weg von meinem In-Ear-Monitoring. Das drückte ich dann meinem Backliner in die Hand.
„Amelie, ich geh schnell duschen. Hast du einen Blick auf Anna?", bat ich meine beste Freundin.
„Klar", antwortete sie.
„Danke."
Damit lief ich zu meinem Rucksack, nahm frische Klamotten raus und lief zu den Waschräumen. Meine Band war natürlich schon fertig und ich genoss es, mal kurz einen Moment für mich zu haben. Dennoch beeilte ich mich und ging dann zum Rest meines Teams zurück. Anna saß zwischen Amelie und Stefan und sie schienen sich angeregt zu unterhalten. Dass meine Freundin so gut aufgenommen wurde, wunderte mich nicht wirklich, aber es machte mich umso glücklicher.
„Alles klar bei dir?", riss mich Mats aus der Betrachtung.
„Ja", antwortete ich und sah ihn kurz von der Seite an.
„Wie geht's ihr?"
„Ganz gut. Sie ist extrem stark. Danke nochmal für deine Hilfe und den Kontakt. Mit Katrin scheint sie sich gut zu verstehen."
„Gern geschehen."
„Hey Wince, da bist du ja wieder." Manu schien mich dann auch mal bemerkt zu haben. „Setz dich doch zu uns oder willst du da Wurzeln schlagen?"
Amelie klopfte neben sich und ich setzte mich zwischen Anna und sie. Stefan reichte mir ein Bier, das ich natürlich dankend annahm. Anna lehnte ihren Kopf an meine Schulter und ich legte meinen Arm um sie. Gefühlt war ich hellwach, aber meine Freundin war das viele unterwegs sein natürlich nicht ganz so gewöhnt. Daher behielt ich sie ganz genau im Auge und nach meinem zweiten Bier verabschiedeten wir uns von allen. Im Hotel kuschelten wir uns direkt ins Bett, denn so langsam spürte ich auch die Müdigkeit. Solange ich mit meinem Team zusammen war, ging die Energie nicht verloren, aber einmal raus aus dieser Bubbel kam sie manchmal mit ganz schöner Wucht. So dauerte es nicht lange, bis ich tief und fest eingeschlafen war.

Annalena

Obwohl ich ziemlich fertig war, konnte ich nicht sofort einschlafen. Zu viel ging mir noch vom Tag im Kopf herum. War das hier alles nur ein Traum? Oder war ich wirklich bei Wincents Konzert und hatte meine ganz persönliche Audiodeskription bekommen? Einige Worte von Stefan hatte ich noch im Kopf und musste lächeln. Dann mischte sich plötzlich Wincents Stimme dazu, der mir sagte, wie stolz er auf mich war und dass er mich liebte. Wie hatte sich mein Leben geändert? Jetzt lag ich auf einmal mit einem deutschen Popstar im Hotelzimmer, mit meinem Kopf auf seiner Brust und wusste, dass morgen das nächste Konzert anstand. Über all diesen Gedanken fielen mir dann doch irgendwann die Augen zu und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.
Als ich einige Stunden später wieder aufwachte, war Wincent schon wach.
„Guten Morgen", sagte er und gab mir einen sanften Kuss.
„Guten Morgen", erwiderte ich. Daran konnte ich mich echt sehr gut gewöhnen.
„Willst du duschen oder kuscheln wir noch zehn Minuten?"
„Kuscheln", antwortete ich sofort und Wincent zog mich fester in seine Arme.
Irgendwann standen wir dann doch auf und machten uns fertig. Da wir bis Bielefeld nur knapp zwei Stunden brauchten, wollten wir noch ein wenig in Kassel bleiben. Unsere Sachen waren schnell gepackt und wir checkten aus. Dann entführte Wincent mich in ein Café, wo es sehr leckeres Frühstück gab.
„Erinnerst du dich noch daran, was das ist?", fragte Wincent irgendwann und legte mir etwas in die Hand.
Ich fuhr mit den Fingern über das Metall. „Dein Schlüsselbund... das war ein A, oder?"
„Ja, richtig."
Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte, also wartete ich einfach ab.
„Komm, wir tauschen mal." Er raschelte mit etwas und statt seinem Schlüssel hatte ich plötzlich ein Holzplättchen in der Hand.
„Fahr mal mit einem Finger die Außenkanten lang", forderte er mich auf.
Ich tat, was er sagte und versuchte mir das zu merken, was ich fühlte.
„Das ist ein A. Wenn man es schreibt, dann ist das ein Strich schräg nach oben, dann auf der anderen Seite schräg nach unten und dann ein Querstrich." Während er das erklärte, führte er meinen Finger an der Kante entlang und ich konnte fühlen, was er sagte.
„Gemerkt?"
„Ja."
„Okay. Dann brauchen wir, um deinen Namen zu schreiben noch ein..."
„N", antwortete ich.
„Richtig. Das geht so." Er tauschte die Plättchen in meiner Hand aus.
Wieder gab er mir einen Moment, um alleine herauszufinden, wo die Kanten waren. Das war jetzt schon etwas schwieriger als davor. Doch mich interessierte es sehr, zu wissen, wie Wincent Buchstaben sah. Bei mir waren es ja nur Erhebungen und er hatte ganze Kanten und Linien. „Das ist ein N, ja?"
„Genau. Ein gerade Strich nach oben, dann schräg nach unten und gerade wieder hoch." Wieder führte er während der Erklärung meine Hand und so langsam begriff ich, wie die Kanten verliefen.
„So. Und mit einem A, dem N, einem zweiten N und einem weiteren A können wir jetzt deinen Namen schreiben. Warte." Er raschelte wieder und dann nahm er mir das Plättchen ab. „So, jetzt liegt vor dir auf dem Tisch dein Name."
Ich tastete vorsichtig danach, um nichts zu verschieben. Wincent nahm meine Hand und ging mit mir nochmal die einzelnen Buchstaben durch.
„Und wie schreibt man bei dir Wincent?", wollte ich neugierig wissen.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now