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Wincent

„Und? Gefunden?", fragte Mats, als ich von der Bühne kam und Nico mir ein Handtuch zuwarf.
Ich gab ihm mein Mikro und nahm das In ear Monitoring raus.
„Sie war da?", stellte ich eine Gegenfrage, obwohl ich mir die Antwort denken konnte.
„Ja. Und du standest fast neben ihr."
„Was? Wann?" Ich war vollkommen baff. Das konnte doch jetzt wirklich nicht wahr sein.
„Beim Geburtstagskind", antwortete Mats. „Sie saß zwei Plätze daneben."
„Ernsthaft jetzt?" Ich sah Mats prüfend an. Wenn das ein weiterer Tourabschluss-Joke war, machte ich ihn einen Kopf kürzer.
„Ja. Wirklich."
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Wie konnte ich denn so blind sein?
„Ich geh duschen", sagte ich zu Mats und versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich wusste, dass weder Mats noch Stefan Kontakt zu Anna hatten, aber sie waren die einzigen beiden, die wussten, wie sie aussah.
„Wincent!", rief Mats mir noch nach, aber ich hörte nicht auf ihn.
Ich wollte jetzt nur noch duschen. Vielleicht half mir das. Eine schöne kalte Dusche. Ich ging in meine Garderobe, suchte aus dem Chaos noch eine Hose und ein hoffentlich sauberes Shirt raus und ging zu den Duschen. Während das kalte Wasser über meinen Körper lief, wanderten meine Gedanken automatisch zu Anna. Diese fremde, vollkommen unbekannte Frau faszinierte mich. Keine Ahnung warum ich mich so fühlte, aber es war so. Wie konnte es sein, dass ich ihr niemals bei den Konzerten über den Weg lief? Sie war so oft da, irgendwann musste ich sie doch sehen. Oder war sie so unscheinbar? Wie hatten Stefan und Mats sie dann wahrgenommen?
Als ich das Wasser abstellte, war ich mit meinen Grübeleien keinen Schritt weiter.
„Reiß dich zusammen, Wince. Du feierst jetzt den Tourabschluss und vergisst die Frau einfach," sagte ich zu mir selbst.
Dann zog ich meine neuen Sachen an, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und ging zu den anderen.

Ich war mal wieder in Berlin, weil ein Meeting mit Anna auf dem Plan stand. Außerdem wollte ich mal wieder Amelie besuchen. Natürlich hatten wir uns auf Tour gesehen, aber das war Arbeit. Ich wollte endlich mal wieder privat Zeit mit meiner besten Freundin verbringen.
Mein Handy klingelte und Mats rief mich an.
„Moin Mats."
„Moin Wince. Hab gehört, du bist in Berlin City. Bock auf'n Bier heute Abend?"
„Ähm, also eigentlich wollte ich zu Amelie", antwortete ich.
„Kommt doch beide rum. Meine Wohnung ist groß genug und pennen könnt ihr hier auch."
„Okay. Ich frag sie."
„Oder du machst eine Überraschung draus", meinte Mats.
„Noch besser. Dann also 18 Uhr bei dir?"
„Perfekt. Ach, wenn du Bier mitbringst, kümmere ich mich ums Abendessen." Ich hörte Mats Grinsen, auch wenn ich es nicht sehen konnte.
„Abgemacht. Dann bis später."
„Bis dann, Wince. Ach und ich rechne nicht vor 18:30 Uhr mit dir", lachte er.
„Halt die Klappe. Für dich bin ich heute 17:45 Uhr da", konterte ich grinsend.
„Das glaub ich dir nicht."
„Wir werden sehen", wank ich ab.
Mats lachte nur und dann beendeten wir den Anruf. Ich hatte noch Zeit, bis ich zu Anna musste und so beschloss ich, erst einmal ins Gym zu gehen.
Nach einer ausgiebigen Sporteinheit sprang ich fix unter die Dusche und machte mich auf den Weg zu Annas Büro. Sie erwartete mich schon, denn natürlich war ich zu spät. Allerdings lag das ausnahmsweise nicht an mir, sondern dem Verkehr in Berlin. Nach zwei Stunden waren wir fertig und ich stellte mal wieder fest, wie ungern ich solche Termine hatte. Natürlich war Planung wichtig und ich war unheimlich dankbar, dass ich dafür mein Team hatte, aber so viel im Voraus den Kopf zerbrechen war absolut nicht meins.
„Mittagessen?", fragte ich Anna.
„Gerne." Sie lächelte mich an.
„Worauf hast du Lust?"
„Lass uns doch zu der Pizzeria hier um die Ecke gehen", schlug sie vor.
Also verließen wir das Gebäude, indem das Büro lag und machten uns auf den Weg. Im Restaurant angekommen, bestellten wir unsere Getränke und die Pizzen.
„Du heute mal kein Bier?", fragte Anna überrascht.
„Ich muss noch zu Mats fahren", erklärte ich ihr, auch wenn das nur die halbe Wahrheit war.
„Und vermutlich vorher einkaufen, oder?" Anna grinste.
„Ja. Ertappt."
„Ich kenne dich ja nun auch schon ein bisschen."
„Das stimmt."
„Wie geht es dir denn?"
„Ganz gut. Aber ich vermisse die Konzerte. Eigentlich Quatsch, weil ich ja bald wieder auf die Bühne darf."
„Wenn es dir jetzt schon so geht, wie wird das dann nächstes Jahr?", wollte Anna wissen.
„Ganz ehrlich? Keine Ahnung", gab ich zu. „Gerade bin ich gar nicht so sicher, was das angeht."
„Wie bitte?" Anna sah mich baff an. „Wincent, du hast dir die Pause mehr als verdient. Deine Fans verstehen das und deine Band braucht auch maö Luft. Benni ist Papa geworden, Manu auch und Tom doch auch. Dein Team gönnt fir die Pause genauso, wie alle anderen. Niemand erwartet von dir, dass du immer 200 Prozent gibst. Du hattest doch Pläne für deine Auszeit."
„Das stimmt", gab ich zu. „Doch ich weiß nicht, ob das wirklich das ist, was ich will."
„Wincent." Anna legte ihre Hand auf meine. „Ein Jahr Tourpause bedeutet, dass du Zeit für dich hast. Immerhin lebst du nicht nur für deine Fans. Du kannst mehr von der Welt sehen, mehr Zeit mit deinen Freunden und deiner Familie verbringen..."
„Familie", unterbrach ich sie. „Genau das ist so ein Punkt. Natürlich will ich mehr Zeit mit Mum und Shay verbringen, aber..."
„Was?" Anna schaute mich prüfend an.
„Naja. Ich wollte auch eine eigene Familie haben. Das war mein Traum." Jeder in meinem Umfeld wusste, wie gerne ich Papa werden wollte.
„Ich weiß. Und es tut mir wirklich leid, dass es im Moment noch nicht so ist. Du verdienst eine eigene Familie und du wirst sie bekommen."
„Woher willst du das wissen?", fragte ich.
„Ich weiß es einfach, okay? Irgendwann..."
„Anna, ich hatte lange genug ein Irgendwann. Ich will nicht mehr."
„Wincent. Beruhig dich wieder. Ich weiß das, obwohl ich nur deine Managerin bin", beschwichtigte sie mich.
„Sorry", murmelte ich und nahm ein Stück Pizza.
„Ich meine ja nur. Du solltest deinen Traum nicht einfach so aufgeben. Das hast du bei der Musik auch nie getan und schau dir an, wo du jetzt stehst. Nur weil es jetzt noch nicht so ist, heißt es ja nicht, dass es nie so sein wird. Wer weiß, was noch passiert. Dieses Jahr ist gerade mal zur Hälfte rum und du hast noch so viele vor dir."
„Anna, ich bin jetzt dreißig. Irgendwann..."
„Genau", unterbracht sie mich. „Du bist gerade mal dreißig. Dein Leben ist nicht morgen und auch nicht in zwei Jahren vorbei. Also hoffentlich. Gerade steckst du mitten in Arbeit. Album ist gerade veröffentlicht, jetzt die verschobene Tour vom dritten Album, dann die Sommertour, Fernsehshows, deine Geheimprojekte, Crewmas... Du bist viel zu beschäftigt, um gerade jetzt die Frau deines Lebens zu finden. Mal abgesehen davon, dass du sie vermutlich eh erst triffst, wenn du nicht mehr damit rechnest. Lass dir einfach noch ein wenig Zeit und mal schauen, was dir vielleicht auch das nächste Jahr bringt. Weniger Arbeit, mehr Zeit für dich und wer weiß, was kommt."
„Das klang jetzt ein bisschen kitschig", sagte ich.
„Mag sein." Anna grinste mich an.
„Aber danke." Ich lächelte und meinte es wirklich so.
„Gerne."
„Hast du noch mehr Kitsch für mich?", fragte ich und nahm eines der letzten Pizzastücke.
„Heute leider nicht mehr. Aber ich kann dir noch etwas ans Herz legen. Du hast mehr Träume als nur eine Familie. Vielleicht nutzt du ja die Zeit im nächsten Jahr und machst endlich mal deinen Flugschein. Oder deine Trainerlizenz. Oder..."
„Okay, okay", unterbrach ich sie. „Verstanden."
„Gut."
„Kannst du jetzt bitte wieder meine strenge Managerin sein?"
Sie schwieg kurz. „Wincent. Du hast für heute Feierabend. Bitte lass jetzt dein Team arbeiten, geh einkaufen und hab einen schönen Abend." Sie grinste mich an. „So?"
„Ja. Danke." Ich grinste zurück.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now