95

116 14 8
                                    

Annalena

So verging der Rest des Tages auch ganz schnell. Wincent wollte unbedingt noch Vaina schauen bzw. hören und dann war es schon fast Zeit für unser Abendessen. Wincent sah in meinem Kühlschrank nach und es waren noch Nudeln da, die Mats gekocht hatte. Ich warf sie mit Ei in die Pfanne und so waren sie dann recht schnell alle. Nach einer gemeinsamen Gassirunde mit Fritz, kuschelten wir uns früher als sonst ins Bett. Allerdings hatte ich um acht Uhr morgens auch die erste Therapiestunde und war mega nervös. Mich beruhigte etwas, dass Wincent dabei war. Allerdings kannte er auch noch nicht alles aus der vergangenen Woche und ich hatte ziemlich Angst davor, das alles nochmal durchleben zu müssen. Obwohl es mir zurzeit wieder ganz gut ging, hatte ich tiefe Momente. Vor allem, wenn ich doch mal alleine war oder niemand mitbekam, dass ich nichts aß. Kaffee konnte ich auch noch nicht wieder trinken, aber mit Tee, Wasser und Saft war ich auch zufrieden.
Am nächsten Morgen wachte ich schon um sechs Uhr auf und konnte einfach nicht mehr einschlafen. Ich wand mich aus Wincents Armen und machte mich leise fertig. Dann packte ich mir Kopfhörer auf die Ohren und startete die Folge ‚Quatsch mit Majo', bei der ich vorgestern eingeschlafen war. Die beiden lenkten mich wenigstens für eine halbe Stunde von meiner Angst ab und ich konnte auf dem Sofa nochmal kurz durchatmen und entspannen. Als der Stoff neben mir nachgab, nahm ich einen Kopfhörer raus.
„Guten Morgen, Schatz. Du bist ja schon auf", murmelte Wincent und gab mir einen Kuss.
„Ja."
„Wie lange?"
„Eine halbe Stunde ungefähr."
„Und was hörst du?"
„Mats und Jojo", antwortete ich. „Ging grad um dich. Spannend, was dein Fotograf so für Storys auspackt."
„Ich fürchte, da muss ich mal ein ernstes Wort mit ihm reden."
„Oder du hörst es dir einfach selbst an. Ist wirklich gut", erwiderte ich. „Und bisher bist du ganz gut weggekommen."
„Das beruhigt mich." Er lachte kurz. „Frühstück?"
„Ja. Aber nicht viel bitte."
Er stand auf. „In fünf Minuten in der Küche."
„Okay."
Seine Schritte entfernten sich. „Okay, vielleicht doch in zehn", rief er noch.
Ich grinste und startete wieder den Podcast.
Nach einem Frühstück mit Wincent stand die tägliche Morgenrunde von und mit Fritz auf der Tagesordnung. Anschließend bekam er noch sein Futter, während ich versuchte ruhig zu bleiben. Das klappte allerdings nicht ganz so gut, obwohl Wincent sich mit mir auf die Couch setzte und mich einfach nur festhielt. Mein Handy klingelte zur Erinnerung an den Termin und spätestens da war es mit der Ruhe vorbei. Ich bekam nicht einmal meine Schuhe geschweige denn die Jacke angezogen, so nervös war ich. Wincent half mir also dabei und ich fühlte mich wie ein Kleinkind, das nichts alleine auf die Reihe bekam. Tränen machten sich auf den Weg in meine Augen, aber ich schluckte sie schnell herunter.
„Schatz, gib mir mal nochmal deinen rechten Arm", bat Wincent und ich tat, was er sagte.
Ich spürte erst Wincents Hand und dann Metall an meiner Haut.
„Was ist das?", fragte ich und fuhr mit der linken Hand über die glatte Oberfläche. Wobei sie nicht ganz glatt war, denn es gab schmale Kerben, deren Anordnung allerdings absolut sinnfrei war.
„Das ist ein Armband. In das Metall steht ‚Nur ein Herzschlag entfernt' eingraviert. Mir hilft es immer, wenn es mir nicht gut geht", erklärte er.
„Ist das nicht ein Song für deine Schwester?", erinnerte ich mich.
„Ja, aber das gilt für alle Menschen, die ich liebe. Aber du hast Recht, eigentlich ist es Shayennes Song. Und sie hat auch so ein Armband."
„Darf ich das dann überhaupt tragen? Das ist doch eine Geschwistersache."
„Anna. Shay will dich eh unbedingt kennenlernen und ganz sicher wird sie sich sofort ins Herz schließen. Du gehörst jetzt auch zur Familie, da darfst du ganz sicher mein Mutmach-Armband tragen. Du brauchst es jetzt am meisten."
Ich war sprachlos. „Danke", hauchte ich also nur und küsste ihn kurz.
„Nicht dafür. Und jetzt komm."
„Fritz?", fragte ich.
„Der wartet nur auf dich", sagte Wincent und gab mir die Leine in die Hand.

Wincent

Ich gab die Adresse von der Praxis ins Handy ein, obwohl ich mir die Strecke schon zehn Mal angeschaut hatte. Dann startete ich den Motor und fuhr los. Für einen Donnerstag Morgen war schon relativ viel los, aber dennoch kamen wir gut durch. Die Parkplatzsuche erwies sich als etwas schwieriger, aber es war eben auch Berlin. Deshalb war ich früher losgefahren, als wir gemusst hätten. Als ich endlich einen Platz gefunden hatte, liefen wir ganz ruhig zur Praxis. Bis zu Annas Termin waren es noch gut fünfzehn Minuten und ich ließ sie einfach in Ruhe. Sie hatte sich an meine Brust gekuschelt und ich hielt sie einfach nur fest. Mehr brauchte es im Moment nicht. Fritz versuchte erst um uns herum zu laufen, aber schließlich gab er auf und setzte sich brav neben uns.
Punkt acht Uhr betraten wir dann die Praxis und Anna klammerte sich förmlich an meine Hand. Ich sah mich kurz um, aber es war schick hier. Vor allem hatte ich das Gefühl, dass man sich hier durchaus gut wohlfühlen konnte. Genau die richtige Atmosphäre, um Therapie zu machen. Das stimmte mich schon einmal zuversichtlich und ich hatte die Hoffnung, Anna ein wenig davon abgeben zu können. Mats hatte auch nur positiv von der Therapeutin berichtet und auf seine Einschätzung konnte ich mich sehr gut verlassen.
Wir waren die Einzigen im Wartezimmer, aber das störte uns nicht. Für Anna war es wahrscheinlich am besten so. Nach fünf Minuten wurde Anna aufgerufen und wir gingen in das Zimmer. Die Wände waren in einem pastellgrün gestrichen, es gab ein Sofa und zwei Sessel. Ein Tisch befand sich in der Mitte, auf dem Gläser und eine Karaffe mit Wasser standen.
„Guten Morgen", begrüßte uns die Therapeutin und reichte erst Anna und dann mir die Hand. „Setzt euch."
Ich führte Anna zum Sofa und sobald wir saßen, legte sich Fritz auf unsere Füße. Die Therapeutin nahm uns gegenüber auf einem Sessel Platz.
„Ich bin Katrin und ich hoffe, es ist okay, wenn wir uns duzen", sagte sie.
„Ja", antwortete Anna schüchtern. „Ich bin Anna."
„Und wen hast du mitgebracht?"
„Fritz und Wincent", antwortete meine Freundin.
Ich drückte beruhigend ihre Hand, aber konnte nachempfinden, wie es ihr ging. Der erste Termin war immer am schlimmsten. Man musste sich erst an die andere Person gewöhnen, den Mut aufbringen, einfach alles zu erzählen und vor allem legte man einer fremden Person sein ganzes Leben und seine Probleme offen. Ich hatte mich am Anfang auch dagegen gesträubt, denn immerhin hatte ich viel zu verlieren. Natürlich hatten Therapeuten Schweigepflicht, aber wenn man nur noch schwer Vertrauen fassen kann, sind Therapiestunden anfangs die reinste Quälerei.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now