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Wincent

„Ja. Ist zwar eine Weile her, aber ich hab das auch mal gelernt", antwortete Steffi.
„Anna, was hast du vor?", fragte ich und bekam kurz Angst.
Das hier nahm eine Richtung an, die mir nicht so gut gefiel. Also es machte Spaß, keine Frage, aber ich war hier offensichtlich mit 2 oder sogar 3 Tanzprofis in einem Raum.
„Papa, hast du eine Playlist mit Walzer-Songs?", überging Anna meine Frage.
„Ja. Soll ich sie anmachen?", fragte Tim seine Tochter.
„Ja, bitte. Hier ist genug Platz für zwei Tanzpaare, oder?" Sie lief kurz eine Runde und lächelte dann zufrieden.
„Okay, dann machen wir jetzt folgendes", wandte sie sich dann an uns alle. „Wir fangen so an, dass Papa und Steffi und Wincent und ich zusammen tanzen. Und bei jedem neuen Song, wechseln wir die Tanzpartner."
„Kurze Frage", warf Tim ein. „Willst du komplett wechseln oder nur Wincent und ich?"
„Ähm, ich glaub, am einfachsten ist, wenn nur ihr wechselt. Also das bedeutet, beim zweiten Song tanze ich mit Papa und Wince mit Steffi."
„Okay. Klingt auf jeden Fall nach viel Spaß. Versuchen wir es", sagte Steffi und ging zu Tim.
Ich war nicht ganz so begeistert, weil ich wirklich kein begabter Tänzer war. Und ehrlicherweise hatte ich die Erklärung auch nicht ganz gecheckt. Aber ich zwang Anna so oft, ihre Komfortzone zu verlassen, dann musste ich das auch mal tun. Also atmete ich tief durch und während wir dem gerade laufenden Song lauschten, bereiteten wir uns alle vor. Den nächsten Track kannte ich schon, denn Anna und ich hatten gerade schon dazu getanzt. Das machte es für mich ein klein bisschen leichter. Ich sah immer wieder zu Steffi und Tim, um zu sehen, wie das mit dem Wechseln dann funktionierte. Es klappte nicht auf Anhieb, aber das war okay. Nach den ersten vier Wechseln hatte ich es dann auch endlich mal kapiert und es klappte ziemlich gut. Ehrlicherweise fand ich auch so langsam Spaß daran, auch wenn Steffi und Anna mir wirklich haushoch überlegen waren, was das Tanzen anging. Doch es war echt okay, denn niemanden störte es. Gerade, als die schnelleren Songs kamen und ich mich echt konzentrieren musste, im Takt zu bleiben, begann das Chaos. Fritz war nämlich nicht so begeistert von unserer Tanzparty und wuselte immer zwischen unseren Füßen herum. Das brachte mich komplett aus dem Konzept und so geriet einiges durcheinander. Lachend versuchten wir wieder rein zu kommen, aber es brachte alles nichts.
„Ich glaub...", begann ich lachend. „Fritz will... ein Spiel, wo er mitmachen kann."
„Er kann ja auch Walzer lernen", schlug Anna vor.
Ich beging einen großen Fehler, indem ich zu Steffi und Tim sahen und sie zu mir. Wir prusteten gleichzeitig los, denn vermutlich hatten wir alle das gleiche Bild vor Augen. Am Ende konnten wir nicht mehr stehen und so saßen wir zu viert auf dem Boden und hielten uns die Bäuche vor Lachen. Fritz sprang bellend zwischen uns umher. Das hier schien ihm eindeutig besser zu gefallen.
„Fritz, komm mal her", sagte ich und klopfte auf meinen Schoß.
Er dachte kurz nach und legte sich dann bei mir hin. Ich streichelte ihn und so kehrte langsam ein wenig Ruhe ein.

Annalena

Es machte so viel Spaß mit meiner Familie herumzualbern. Sogar auf dem Fußboden sitzen war vollkommen okay. Ich musste zugeben, dass ich seit meinem ersten Tanzunterricht nicht mehr so viel Spaß am Tanzen hatte wie heute.
„Ich weiß, ihr findet es hier ganz okay, aber wollen wir vielleicht wieder auf die Couch oder an den Tisch umziehen?", fragte mein Vater irgendwann.
„Wieso? Ist doch schön hier", antwortete Steffi.
„Für euch vielleicht, aber wie komme ich hier nachher wieder hoch?", kam es von meinem Vater.
„Ach, das schaffst du schon", beruhigte ich ihn. „Sonst fangen wir halt ohne dich an."
„Hey, könnt ihr wenigstens an Weihnachten mal nett zu einem alten Mann sein?"
„Also, Wince, bevor du dich das nächste Mal über dein Alter aufregst, schau dir Papa an", wandte ich mich an meinen Freund.
Steffi begann zu lachen und das reichte mir.
„Was hältst du von Memorie, Steffi?"
„Bin dabei."
Wir standen auf und ich ging das Spiel holen.
„Hallo? Könnt ihr uns vielleicht hoch helfen? Wir wollen auch mitspielen", hörte ich meinen Vater noch sagen.
„Och, ihr armen alten Männer", sagte Steffi, gerade als ich wieder ins Wohnzimmer kam. „Komm Anna, wollen wir die zwei mal erlösen?"
Ich dachte kurz drüber nach. „Okay, ausnahmsweise. Weil heute Weihnachten ist."
„Womit hab ich eigentlich verdient, dass meine Tochter so frech ist?", fragte mein Vater und richtete die Frage sehr wahrscheinlich an Wincent.
„Ich vermute, meine Mutter würde den gleichen Satz sagen", antwortete mein Freund. „Ich fürchte also, diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten."
„Weißt du, ich dachte immer, die Pubertät ist die schlimmste Zeit, aber das wird mit zunehmendem Alter nicht wirklich besser", sagte mein Vater und setzte sich zu uns an den Tisch.
Wincent tat es ihm gleich. „Ich werde es mir merken."
Die nächsten Stunden verbrachten wir hauptsächlich mit Gesellschaftsspielen und Gesprächen. Steffi hatte für das Abendessen Gans mit Kartoffelklößen und Rotkohl gekocht, was dafür sorgte, dass wir die letzten Runden sehr unkonzentriert spielten. Der leckere Geruch zog einfach durch die gesamte Wohnung und ließ uns das Wasser in den Mündern zusammenlaufen. Nachdem wir uns alle ausreichend gestärkt hatten, lagen wir eine halbe Stunde auf der Couch. Dann quälte ich mich hoch, um mit Fritz eine Runde zu drehen. Wincent war eingeschlafen, aber da mein Vater angeboten hatte, den Abwasch zu übernehmen, begleitete mich Steffi.
„Du siehst echt glücklich", merkte sie irgendwann an.
„Bin ich auch", antwortete ich. „Ich meine, mein Leben ist vollkommen verrückt gerade, aber ich bin glücklich. Ich wusste gar nicht, wie sich wahres Glück anfühlt."
„Und jetzt weißt du es."
„Du auch?", wollte ich wissen.
„Ich denke schon."
„Was hat Papa dir eigentlich zu Weihnachten geschenkt?", wurde ich jetzt doch neugierig.
Ich wusste, dass er ihr seit Jahren immer ein Geschenk kaufte, aber wenn Wincent Recht hatte, musste es ja dieses Jahr etwas Besonderes sein.
„Eine Woche Urlaub, wobei ich das Ziel aussuchen darf", antwortete Steffi.
„Und du ihm?"
„Das Gleiche", lachte sie.
„Hatten wir das nicht schon einmal?", erinnerte ich mich.
„Ja. Da musst du... vierzehn gewesen sein. Dein Vater und ich haben beide für den jeweils anderen eine neue Regenjacke gekauft. Die gleiche witzigerweise. Seine alte war bei einem Ausflug mir dir kaputt gegangen und meine bei einem Dienstausflug, glaub ich."
„Habt ihr die noch?"
„Wir tragen sie bis heute", gab sie zu.
„Steffi, ich glaube, du hast schon vor achtundzwanzig Jahren erfahren, was wahres Glück ist", sagte ich und meinte es wirklich so.
Sie schien überrascht zu sein. „Meinst du?"
„Ja. Und Papa und ich auch. Ich meine, wir hatten nicht nur uns, sondern auch dich."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt