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Wincent

Mit angehaltenem Atem wartete ich auf eine Reaktion. Im Kopf zählte ich leise mit.
21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29...
Stille. Nur Fritz jaulte kurz auf. Dann ganz langsame, schwerfällige Schritte. Einer, zwei, drei, vier, fünf. Ruhe. Ein Klacken vom Schloss.
Die Badezimmertür ging auf und ich konnte Fritz gerade noch so am Halsband festhalten. Sonst hätte er Anna ganz bestimmt umgeschubst, so wie sie aussah. Komplett blass, müde und verzweifelt.
„Bleib", befahl ich Fritz und ging einen Schritt auf Anna zu. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie einfach nur fest. „Ich bring dich ins Bett", erklärte ich ihr. Dann hob ich sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Ich kuschelte Anna unter der Bettdecke ein.
Fritz hatte natürlich nur halb gehört und stand vollkommen verwirrt neben dem Bett.
„Du passt auf, dass dein Frauchen sich nicht aus dem Bett bewegt, ja?"
Er sah mich aufmerksam an.
„Und wenn etwas ist, sag Bescheid. Einverstanden, mein Freund?"
Fritz bellte kurz und sprang dann aufs Bett. Er legte sich auf die Bettseite, auf der ich heute Nacht geschlafen hatte, und beobachtete Anna.
Ich lief in die Küche, suchte Kräutertee heraus und kochte heißes Wasser. Während ich warten musste, ging ich nochmal ins Schlafzimmer und holte mein Handy. Noch im Laufen scrollte ich durch meine Kontakte und wählte die wichtigste Nummer in meinem Telefonbuch.
„Wince? Schön, mal wieder von dir zu hören. Was verschafft mir denn die Ehre?"
„Mum? Ich brauche mal bitte deine Hilfe", sagte ich.
Mit einer Hand holte ich eine Tasse aus dem Schrank, tat einen Teebeutel hinein und goss das heiße Wasser drüber.
„Womit kann ich dir helfen?" Meine Mutter war sofort mit voller Konzentration dabei.
„Ähm... also... Ich bin gerade bei... einer Freundin in Hamburg. Also ich bin nicht bei ihr zu Besuch oder irgendwie doch. Naja, eigentlich bin ich wegen einer Fernsehaufzeichnung hier. Ist ja auch egal... Was ich wollte... Ähm..." Mein Kopf war mal wieder viel zu langsam und definitiv mit der Situation überfordert.
„Wince, langsam", unterbrach mich meine Mutter. „Bitte nur die wichtigen Fakten."
Ich atmete tief durch und erzählte meiner Mutter dann in Kurzfassung davon, was ich wusste. Ich beschrieb ihr, so genau wie ich konnte, Annas gegenwärtige Situation und erwähnte auch die Panikattacke letzte Nacht. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob das vielleicht in einem Zusammenhang stand.
„Mama, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ihr Vater soll heute aus dem Krankenhaus entlassen werden, Anna geht es nicht gut und ich muss in anderthalb Stunden am Set sein", schloss ich meinen Monolog.
„Kann sich jemand anderes um Anna kümmern?", fragte Mum nach.
„Ihr ehemaliges Kindermädchen fällt mir als Einzige ein", überlegte ich laut. „Aber nein, die muss arbeiten. Heute Abend ist ja wieder Show."
Verzweifelt fuhr ich mir durch meine sowieso noch ungekämmten Haare.
„Mhm." Mum dachte angestrengt nach. „Dann machst du jetzt ganz genau, was ich dir sage."
Ich versuchte mir die ganzen Sachen zu merken und direkt auszuführen. Allerdings hatte ich absolut keinen Plan und stellte mich vermutlich absolut bescheuert an. Egal.

Annalena

Ich war noch immer komplett fertig, als mein Körper mich das nächste Mal weckte. Mühsam öffnete ich meine Augen.
„Guten Morgen", hörte ich Wincent sanft sagen.
„Guten Morgen", antwortete ich leise. „Wie spät ist es?"
„Fast 11 Uhr."
„Dein Job... Was machst du noch hier?" Nicht, dass ich ihn nicht hier haben wollte, aber er musste arbeiten.
„Pssst. Ich hab erst heute Nachmittag Dreh. Es wurde nach hinten geschoben. Ist bei Folgen mit Überlänge immer so."
„Okay." Ich war erleichtert, dass zu hören. Ich wollte nicht alleine sein.
„Trink mal bitte was", bat Wincent mich und ich setzte mich langsam auf.
Es fiel mir verdammt schwer. Sofort stiegen mir Tränen in die Augen, denn ich wusste noch ganz genau, wann ich das Ganze schon einmal erlebt hatte. Verdammt ey!
„Hey, alles ist gut." Wincents Stimme klang noch immer sehr sanft. Er zog mich in seine Arme und an seiner Brust ließ ich meinen Emotionen freien Lauf. Das war doch alles Scheiße. Da kämpfte ich jahrelang, immer kurz davor aufzugeben und dann kam Jahre später der ganze Mist zurück. Aus dem Nichts.
Keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Ich wusste nur, dass ich das alles hier nicht wollte. Also doch, in Wincents Armen zu liegen und Fritz auf meinen Füßen zu spüren, war mehr, als ich mir jemals erträumt hatte. Aber dann war da noch diese bescheuerte Krankheit, die auf einmal wieder präsent war. All die Jahre lief alles gut, ich konnte die schlimmste Zeit meines Lebens vergessen und jetzt war sie da. Stärker als je zuvor. Ohne Chance, sie zu verdrängen. Ich wusste nicht, wie ich es schaffen sollte. Noch einmal der ganze kräftezehrende Aufwand. Für was? Weitere zehn schöne Jahre? Um dann wieder von Null anzufangen? Ich konnte das nicht. Es würde mich zerstören. Dessen war ich mir sicher. Und diese Erkenntnis brach mein Herz. Ich würde nie erleben, was ich mir mit Wincent hätte vorstellen können. Es war vorbei.

Wincent

Annas Verzweiflung war so präsent, dass mein Herz sich unwillkürlich zusammenzog. Ich wusste nicht, was ich tun konnte, um sie rauszuholen. Ich wollte ihre Gedanken wissen und gleichzeitig hatte ich Angst davor, ihr nicht helfen zu können. So tat ich das Einzige, was ich im Moment wusste, was ich tun kann. Ich hielt sie fest.
Irgendwann wurde sie wieder ruhiger und als ihr Atem gleichmäßig ging, atmete ich erleichtert auf. Sie war wieder eingeschlafen und ich hoffte, dass ihre schlechten Gedanken wenigstens vorübergehend verschwunden waren.
Einige Minuten blieb ich noch liegen, aber dann stand ich vorsichtig auf. Immerhin musste ich in einer halben Stunde los ans Set, auch wenn ich zum allerersten Mal keine Lust hatte.
In der Küche kochte ich mir erst einmal den seit einigen Stunden überfälligen Kaffee. Dann frühstückte ich noch kurz, wobei es zeitlich eher Mittagessen war. Währenddessen checkte ich nochmal ein wenig Instagram, sah mir die Storys von Fans an und versah hier und da noch Beiträge mit einem Like. Ich war immer wieder überrascht, wie kreativ die ganzen Fans waren.
Als ich einige Storys mit Fanfictions gesehen hatte, dachte ich darüber nach, unser altes Ritual auf Tour wieder aufleben zu lassen. An Auswahl würde es uns definitiv nicht mangeln und irgendwie mochte ich es, gemeinsam mit dem Team abends zu lesen, was Fans sich so vorstellten. Ich sah, dass teilweise zwei oder drei Leute an einer Story schrieben und fragte mich, wo sie die Zeit und die ganze kreative Energie hernahmen.
Nachdem ich mich von Instagram hab lösen können, räumte ich die Sachen weg und ging nochmal nach Anna sehen. Sie schlief immer noch in der gleichen Position.
Fritz sah kurz auf, aber als er mich erblickte, wedelte er nur kurz mit dem Schwanz, bevor er weiter schlief.
Ich wollte gerade ins Wohnzimmer, als auf Annas Nachttisch ein Handy klingelte. Ich sah  kurz auf das Display, auf dem schon zwei Anrufe in Abwesenheit von Steffi standen. Die hatte ich dann wohl überhört. Nun stand ‚Papa ruft an' auf dem Bildschirm und ich zögerte.

Bin ich für sie blind? Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora