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Annalena

„Ja, ehrlich", erwiderte ich.
„Cool." Wincent nahm mir Fritz also wieder ab und so gingen wir einfach Hand im Hand am Hafen entlang.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wären wir ganz normale Leute. Eine Frau, ein Mann, Hand in Hand und mit Hund. Da ich wieder meine Brille trug, konnte man nicht direkt auf den ersten Blick erkennen, dass ich blind war. So fühlte ich mich zum ersten Mal so richtig normal.
Die Fahrt zum Supermarkt war nicht lang und ich erzählte Wincent kurz, was wir alles brauchten. Er gab mir Fritz Leine und holte einen Einkaufswagen, an dem ich mich zusätzlich noch festhielt. So konnte ich auf keinen Fall verloren gehen, wobei Fritz eh Wincent nicht wirklich weit weg ließ. Keine Ahnung, was mein Hund an ihm gefressen hatte, aber es machte mich glücklich. Der Einkauf war schnell erledigt und ich bezahlte, während Wincent die Sachen wieder in den Wagen packte. Dann gingen wir auf den Parkplatz, wo Wincent alles in den Kofferraum räumte. Dabei war ich keine so große Hilfe, weshalb Fritz und ich schon wieder ins Auto stiegen. Die Adresse von meinem Vater kannte Wincent noch. Irgendwie machte es total Spaß, mit ihm unterwegs zu sein. Sogar in einem unbekannten Laden einkaufen, war mit ihm etwas Besonderes. Dabei war das albern. Einkaufen war so eine alltägliche Sache, aber mit ihm irgendwie nicht.                  
Bei meinem Vater in der Wohnung räumte ich die Sachen weg, während ich Wincent und Fritz ins Wohnzimmer schickte. Beide schienen sich sehr darüber zu freuen, denn ich hörte Lachen und fröhliches Bellen. Ich musste zugeben, dass Wincents Lachen mich sofort zum Lächeln brachte und die Schmetterlinge in meinem Bauch kamen sofort zurück und feierten eine Party. Wie machte dieser Mann das nur?
Als ich alles eingeräumt hatte, nahm ich meine Tasche und pfiff dann nach Fritz. Keine Reaktion.
„Wincent! Fritz!", rief ich durch die Wohnung und kurz herrschte Ruhe.
Dann kamen Schritte und Pfoten schnell näher und im nächsten Moment streifte Fritz um meine Beine.
„Wir wollen los", erklärte ich.
„Kann er mit?", fragte Wincent. „Ich habe nämlich bei meiner Recherche gelesen, dass er überall da, wo man mit Straßenschuhen hin kann, auch hin darf."
Er hatte sich wirklich damit befasst. Wow. Womit hatte ich das verdient? War die Zeit mit mir so aufregend?
„Ja, er kann mit. Nur Krankenhäuser mag er nicht wirklich", sagte ich an Wincent gewandt.
„Dann los." Ich leinte meinen Hund schnell an, denn im nächsten Moment spürte ich einen Luftzug.
Wincent hielt die Wohnungstür auf, bis Fritz und ich im Treppenhaus standen und ich ihm den Schlüssel reichte. Er schloss ab und gab ihn mir dann zurück, bevor wir die Treppen nach unten gingen.
Ich konnte mich echt daran gewöhnen, mit Wincent unterwegs zu sein. Er schloss selbstverständlich Türen ab, öffnete mir jegliche Türen, ich kannte sein Auto und er hatte kein Problem mit Fritz. Wincent dachte an alles und ich hatte das Gefühl, als wäre ich endlich in der Erwachsenenwelt angekommen.

Wincent

„So, Madame. Wo geht es hin?", fragte ich und Anna nannte mir die Adresse.
Ich startete das Navi und fuhr dann los. Diesmal waren wir nicht im Berufsverkehr unterwegs und unter der Woche war abends nur wenig hier los. Zumindest in der Ecke, in die Anna mich geschickt hatte.
Was hatte sie vor? Wie würde der weitere Nachmittag und Abend verlaufen?
Ich konnte Anna noch nicht so wirklich einschätzen, auch wenn ich sie nicht für den Typ Mensch hielt, der viel Adrenalin brauchte. Ganz anders als ich. Aber heute Abend ging es nicht um mich, sondern um die gemeinsame Zeit mit Anna.
Als mein Navi meldete, dass wir fast am Ziel waren, checkte ich, wo in Hamburg wir uns befanden. Musical? Anna?
„Sie haben ihr Ziel erreicht", vermeldete mein Handy fünf Minuten später.
„Warte kurz", meinte Anna und zückte ihr Handy. „Steffi anrufen", sagte sie und hielt sich dann das Telefon ans Ohr.
„Steffi?... Ja, wir sind da... In fünf Minuten am Haupteingang... Okay, das schaffen wir... Fritz ist kein Problem, oder?... Dann ist super. Bis gleich."
Okay, offensichtlich kannte sie hier jemanden. Ging sie wirklich freiwillig in ein Musical? Sie hatte doch nur die Hälfte davon. Andererseits, wenn das wirklich die Anna war, dann ging sie auch blind auf Konzerte.
„Bereit?", fragte Anna mich.
„Ja. Auch wenn ich nicht weiß, wofür."
„Ich glaube, du wirst es mögen."
„Dann bin ich gespannt." Ich stieg aus, öffnete Annas Autotür und holte dann Fritz von der Rückbank.
„Siehst du den Haupteingang?", wollte Anna wissen.
„Welchen meinst du?", hakte ich nach.
„Achso, klar. Den von König der Löwen."
Also doch Musical. Aber warum so früh?
„Okay. Da wollen wir hin?"
„Ja. Wir schauen uns ein bisschen hinter den Kulissen um und heute Abend haben wir Logenplätze für die Show", erzählte sie und ich dachte, sie will mich verarschen.
„Dein Ernst?"
Ich war zwar schon einmal hier, das war bereits einige Monate her, aber das war trotzdem unglaublich. Als ich bei einer Gala vor einiger Zeit hier mit den Kids auf der Bühne stehen durfte, war es eines der schönsten Gefühle bisher. Und nun hatte ich die Chance, wieder hinter die Kulissen zu schauen.
„Und du? Ich meine, du hast doch von der Aufführung nichts, oder?", fragte ich dann vorsichtig nach.
„Ich kenne das Stück in-und auswendig. Immerhin bin ich hier aufgewachsen."
„Du bist was?" Ich war absolut baff.
„Mein Vater arbeitet hier im Bereich Bühnenbild und Requisite", erzählte Anna mir. „Früher war ich häufig hier, wenn er arbeiten musste."
„Wow", war mein einziger Kommentar.
„Ach und Steffi, die du gleich kennenlernen wirst, war mehr oder weniger mein Kindermädchen. Also für die Zeit, die ich hier verbrachte."
„Anna. Wie schön, dass du da bist." Eine Frau, ich schätzte sie auf Anfang 40 kam auf uns zu. Die langen braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie trug nur schwarze Klamotten. Eigentlich genau mein Stil.
„Hey Steffi. Darf ich dir Wincent vorstellen?", kam es von Anna, die von Steffi kurz umarmt worden war.
„Wincent Weiss?" Steffi sah mich prüfend an.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now