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Annalena

Ich hielt automatisch die Luft an und der Rest des Satzes blieb unausgesprochen. Wie konnte er mich mit einer simplen Geste so aus dem Konzept bringen?
„Shhht. Ich bringe dich jetzt da hin. Ohne Diskussion." Wincents Stimme war noch immer freundlich, aber deutlich bestimmter als vorher.
„Wincent, ich weiß, du meinst es gut, aber du musst arbeiten", protestierte ich dennoch, auch wenn meine Angst, alleine durch Hamburg zu müssen, riesig war.
„Mach dir bitte keine Gedanken, okay?", sagte Wincent wieder komplett ruhig. „Ich bin eh nie pünktlich, also alles kein Problem. Komm jetzt."
Er nahm meine Hand, dann hörte ich ein Klicken und danach das Öffnen einer Autotür. Weil ich wusste, er würde nicht nachlassen und ich wirklich keine Lust hatte, alleine zu fahren, kletterte ich ins Auto. Vermutlich sah das von außen absolut bescheuert aus, aber unbekannte Fahrzeuge waren einfach immer eine Herausforderung.
„Fritz, ab auf die Rückbank", wies Wincent meinen Hund an und ich hörte eine weitere Tür aufgehen.
Im nächsten Moment spürte ich Fritz warmen Atem im Nacken und wurde wieder ruhiger.
Türen wurden zugeschlagen und dann hörte ich, wie Wincent auf den Fahrersitz rutschte. Seine Tür fiel zu und wenige Sekunden später wurde der Motor gestartet. Ich nannte Wincent das Krankenhaus und schnallte mich dann fix an. Ich wartete auf das Klicken von seinem Gurt und kaum hatte ich es gehört, spürte ich eine Bewegung. Ein bisschen Angst hatte ich vor Wincents Fahrstil ja schon, denn von Lara hatte ich bisher nicht all zu viel Gutes gehört. Andererseits war sie noch nie bei ihm persönlich mitgefahren und im Grunde konnte sie sich nicht beschweren. Ihr eigener war nicht wirklich viel besser.
„Nicht wundern, das Auto muss so klingen. Marki ist nicht mehr der jüngste", erklärte Wincent mir irgendwann im Laufe der Fahrt. „Aber ich liebe meine Oldtimer einfach und vor allem hier in Hamburg fahren sie sich super."
„Du bist also ein Autoliebhaber?", hakte ich nach. Einerseits interessierte es mich wirklich und andererseits wollte ich mir nicht weiter über seine Fahrweise den Kopf zerbrechen. Einen Vorteil hatte meine Blindheit: Für den Fall, dass Wincent sich nicht an die Straßenverkehrsordnung hielt, war ich als Zeugin raus. Wie sollte ich denn wissen, ob die Ampel rot war?

Wincent

Ich versuchte wirklich, mich zu benehmen. Immerhin waren nicht alle so locker drauf, was meine Vorliebe für Geschwindigkeit anging. Die meisten hatten eher Angst um meine Oldtimer, aber die schafften das alle noch locker.
Doch auch, wenn ich Anna nicht wirklich direkt meine schlimmste Autofahrerseite zeigen wollte, stand ich ein wenig unter Druck. Klar, ich hatte darauf bestanden, sie zu fahren und dazu stand ich auch. Und obwohl ich wirklich ganz selten pünktlich zu irgendwelchen Terminen kam, abgesehen von den The Voice Kids-Drehs, sollte ich mir nicht zu viel erlauben. Es war schon knifflig genug, spontan einen Hund mit ans Set bringen zu dürfen. Ich hatte Fritz als Therapiehund angemeldet, was so bedingt stimmte. Als ich mit Kai gestern noch telefoniert hatte, war es schon schwer genug, Anna da raus zu lassen. Vermutlich ahnte er etwas, vor allem wenn ich heute mit Hund und dann auch noch zu spät kam. Fuck ey! Ich brachte mich selbst nur in blöde Situationen gerade.
Ich atmete tief durch und fuhr vielleicht etwas zu schnell um die letzte Straßenecke. Zum Glück kam mir nur ein Motorrad entgegen und ich war nur Sekunden später wieder komplett auf meiner Fahrspur. Das durfte man echt niemandem erzählen.
Ich bremste kurz vor dem Klinikgelände dann doch ein wenig ab und stellte mich auf den ersten freien Parkplatz. Fritz war ein Begleithund, das musste als Beweis für Behinderung ausreichen. Und ich war ja nicht lange hier.


Annalena

Als Wincent den Motor abstellte war ich irgendwie froh und irgendwie auch nicht. Ich mochte es, neben ihm zu sitzen und obwohl ich keine Ahnung von der Umgebung hatte, er hätte mich also eiskalt entführen können, fühlte ich mich sicher. Auch wenn ich an manchen Ecken das Gefühl hatte, ich wäre auf welche Art und Weise auch immer in einer Verbrecherjagd in einem Actionfilm gelandet.
„Ich denke, ab hier erinnere ich mich an den Weg. Danke für alles", sagte ich an Wincent gewandt.
„Ich tue das wirklich gerne. Meld dich einfach, wenn du fertig bist, dann holen wir dich ab, okay?", bot er mir an.
„Okay." Ich löste meinen Sicherheitsgurt und drehte mich nach hinten zu Fritz um. „Benimm dich, ja? Und lass Wincent arbeiten. Wir sehen uns nachher wieder." Dann flüsterte ich ihm noch ein: „Pass gut auf Wincent auf, ja?" ins Ohr und Fritz leckte mir übers Gesicht.
„Bis später und pass gut auf ihn auf. Denk dran..."
„...kein Jever", ergänzte Wincent lachend. „Ich weiß." Dann wurde er wieder ernst. „Bis später und genieß die Zeit mit deinem Vater."
„Mach ich", erwiderte ich, tastete nach der Tür und öffnete sie. Wenigstens das bekam ich heute auf Anhieb hin.
Draußen stehend drückte ich die Autotür zu und versuchte mich zu orientieren. Zwei Menschen liefen an mir vorbei und unterhielten sich darüber, dass sie jemanden mit ihrem überraschen wollten. An die Fersen heftete ich mich einfach, in der Hoffnung, so zum Haupteingang zu gelangen. Tatsächlich mit großem Erfolg und ich tastete mich langsam zum Empfang vor. Jetzt wurde es witzig, denn was auch immer mir beschrieben wurde, musste ich mir merken.
„Guten Morgen", grüßte ich, in der Hoffnung, dass ich nicht mit einem leeren Tresen sprach.
„Guten Morgen", kam als Antwort. „Moment, ich kenne Sie doch. Sie sind die Tochter von Tim Bergmann, oder?"
Moment! Hatte sie mich gerade erkannt?
„Ich bin Schwester Sabine. Ich habe sie gestern kurz gesehen. Wenn Sie wollen, kann meine Kollegin Laura Sie zu ihrem Vater bringen."
Hä? So einfach war das? Wussten hier alle Bescheid? Stand mir das neuerdings auf die Stirn tätowiert?
„Das... wäre sehr nett", bedankte ich mich und musste das kurz sortieren.
„Kommen Sie, Frau Bergmann", sagte eine freundliche Frauenstimme neben mir.
Ich hob meine Hand und die Schwester ergriff sie. Dann wurde ich, wie gestern von Steffi, durch diverse Gänge geführt. Wie man sich hier zurechtfinden sollte, blieb mir echt ein Rätsel.
„So, da wären wir." Meine Hand wurde vorsichtig auf die Türklinke gelegt und ich drückte sie herunter.
„Anna?", kam kurz darauf auch die Stimme meines Vaters aus dem Raum.
„Hey Papa", begrüßte ich ihn.
„Schön, dass du da bist. Setz dich doch."
Ich tastete mich wieder zum Hocker, der zum Glück noch an Ort und Stelle stand.
„Wie geht's dir?", wollte ich wissen.
„Ganz okay, aber ich freue mich auf Zuhause."
„Das glaub ich sofort."
„Und Fritz ist gut versorgt?", fragte mein Vater und brachte mich in eine Zwickmühle.

Bin ich für sie blind? Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu