#28 - Schreiend

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Ich hörte es klingeln. Zumindest dachte ich, dass ich es klingeln hörte.

Eigentlich hörte ich gar nichts mehr. Es war, als hätte jemand Watte auf meine Ohren gepresst.

Nicht nur auf meine Ohren, sondern auch auf meine Augen und auf meine Nase.

Ich starrte leer vor mich hin. Ich sah nichts mehr, ich nahm nichts mehr wahr. Die Welt um mich herum existierte für mich gar nicht mehr.

 Und ich bekam dabei kaum noch Luft. Das Loch in meiner Brust wuchs und wuchs. Eigentlich hatte ich schon in den letzten Tagen gedacht, es könnte gar nicht mehr wachsen, aber jedes Mal bewies es mir wieder aufs Neue, dass es jedes Mal noch mehr schmerzte.

Schade, dass sich die Watte nicht auf die Wunde in meinem Herzen legte. Vielleicht würde es die ausgefransten Ränder ein wenig festhalten und den Schmerz minimal reduzieren.

Ich starrte auf das Lenkrad und starrte aber auch irgendwie nicht auf das Lenkrad. Ich war nicht hier. Ich war irgendwo in einer Alptraumwelt aus Schmerz und Tränen.

Ich erschrak so heftig, als sich Caro am anderen Ende meldete, dass mir das Handy aus der eingefrorenen Hand rutschte und im Fußraum zum Liegen kam.

Wie in Trance befreite ich mich aus meiner Embryo-Haltung und suchte mit tauben Fingern nach dem blöden iPhone.

„Sam? ... Sammy? SAM?? Ich hör dich nicht, Sam! Bist du schon auf dem Heimweg? .. SAM!?"

Meine Finger tasteten in Zeitlupe nach dem Handy. Es kostete mich so viel Kraft, meine Hand weiter zu bewegen, damit ich Caros Stimme direkt an meinem Ohr hören konnte. Aber ich brauchte sie, ich brauchte das doofe Handy.

Endlich hatte ich es gefunden und ich griff danach. Beinahe wäre es mir wieder entglitten, aber jetzt hielt ich es mit beiden Händen fest. Mein Handy war mein Anker, meine beste Freundin mein Kompass.

„.. Caro ...", brachte ich endlich mit heiserer Stimme flüsternd hervor. Man konnte nur erahnen, dass ich etwas gesagt hatte. „Ca..." – Der Rest ging in ein lautlosen Schluchzen unter. Ich presste die Augen zusammen und wollte am liebsten sterben. Ich hatte mich selber gar nicht mehr gehört, als ich das zweite Mal ihren Namen sagen wollte, aber das musste wohl an der Watte über meinen Ohren liegen, denn anscheinend war doch irgendein Geräusch durch die Leitung bis zu ihr gedrungen.

„Sam? Was ist los, Maus? Samantha, sprich mit mir!!!" Caros Stimme wurde immer schriller. Ihre Alarmglocken in ihrem Kopf schienen laut zu klingeln.

Ich wollte ihr so gerne alles erzählen, aber ich bekam keinen Ton heraus. Ich schnappte immer wieder nach Luft, aber meine Stimmbänder verweigerten weiterhin, sich wieder normal zu benehmen. Also schluchzte ich nur weiter in mein Handy, das ich immer noch mit beiden Händen umkrallte.

„Okay, Sam. Ich hab keine Ahnung, wo du bist, wer bei  dir ist und was los ist." Caro atmete tief durch, sie versuchte nicht auszuticken, weil sie wusste, dass das alles noch schlimmer machen würde. Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie den Tränen nahe war. Sie spürte, dass etwas Schreckliches passiert war, und sie litt wie immer mit mir. „Aber. Hör mir jetzt genau zu. Entweder du versuchst zu sprechen und erzählst mir, was passiert ist, oder du bewegst deinen Knackarsch zu mir. Und zwar auf der Stelle ohne Widerrede."

Die Widerrede würde sie so oder so nicht zu hören kriegen, selbst wenn ich wollte.

Ich wollte ihr antworten, aber ich bekam ja leider immer noch keinen Ton heraus. Stattdessen entfuhr mir ein lauter herzzerreißender Schluchzer.

„Okay, Sammy. Du kommst jetzt hierher." Sie sagte jedes Wort ganz langsam, um ihre Beherrschung zu bewahren. Ihre Stimme klang wieder einigermaßen gefasst und sie versuchte, ihren Befehl möglichst authentisch klingen zu lassen. „Bau keinen Unfall, weil ich dich dafür sonst umbringe. Zweimal. Mindestens. Ich warte hier auf dich. Wenn du in einer Stunde nicht hier bist, rufe ich die Polizei. Nur, dass du Bescheid weißt." Ihre Stimme klang leise und sanft. Ich schluchzte als Antwort noch einmal und ließ das Handy dann sinken.

Ich saß immer noch wie versteinert da.

Auf einmal lachte ich los. Ich lachte los wie eine hysterische Hyäne.

Wie blöd warst du eigentlich, Samantha?!? Hast du wirklich gedacht, Harry Styles würde da auftauchen, um dich zu sehen?

Es fühlte sich an, als hätte jemand in mir einen Schalter umgelegt.

In Sekundenschnelle wechselte mein Inneres von dem eingefrorenen, gebrochenen Etwas zu einem fuchsteufelswilden, wütenden Tornado.

Ich schrie auf allen Sprachen, die ich kannte, alle Flüche, die mir in den Sinn kamen (und ich muss echt zugeben, ich war von mir selber erstaunt, was ich alles zustande brachte!). Ich hatte schon immer die Angewohnheit, dass ich ins Italienische verfiel, wenn ich sauer war. Besonders, wenn ich mich mit Mom oder besonders Leo zoffte, wechselten wir irgendwann von Deutsch zu Italienisch, ohne dass es uns selber auffiel.

Ich raufte mir die Haare, ich schlug mit beiden Händen auf mein Lenkrad, ich trommelte mit den Füßen gegen meine Fußmatten im Fußraum, schreiend vor Schmerz, schreiend vor Wut, schreiend vor Enttäuschung, schreiend vor Liebeskummer.

Ich fluchte immer noch lauthals vor mich hin, während ich weiter auf die Autobahn zufuhr und eine knappe halbe Stunde später eine Vollbremsung auf Caros Garageneinfahrt hinlegte.

Sofort riss sie die Haustür auf und flog mir in ihren Kuschelsocken entgegen. Sie umarmte mich sehr fest, ohne etwas zu sagen. Während sie mich drückte, fingen meine Tränen natürlich wieder an zu laufen. Ich konnte sie einfach nicht aufhalten, auch wenn ich wusste, dass dieser Scheißkerl sie nicht wert war. Ich schluchzte in ihre blonden Haare und sie umarmte mich noch fester.

Sie löste sich irgendwann von mir, nahm mein Gesicht in ihre Hände und sagte: „Ich habe mir noch nie so Sorgen um jemanden gemacht. Eigentlich war es unverantwortlich von mir, dass ich dich noch bis zu mir fahren lassen habe."

Sie nahm meine Hand und zog mich nach drinnen bis in ihr Zimmer.

Dort ließ ich mich rückwärts auf ihr Bett fallen. Ich weinte immer noch. Ich konnte nicht aufhören.

Caro legte mir eine Packung Taschentücher auf den Schoß und legte sich bäuchlings neben mich.

Sie sah mich mit festem Blick an und sagte: „Erzähl. Ich will alles wissen."

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt