#82 - Harry-Tränen, Galgenhumor & ein Gefallen

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Langsam wachte ich auf. Ich drehte mich auf den Rücken und hielt die Augen weiterhin geschlossen.

Verdammt.

Ich lebte noch.

Ich hatte gehofft, ich würde nie wieder aufwachen.

Aber das Schicksal würde mir natürlich nie so eine Gnade erweisen.

Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie ich ins Bett gekommen war. Ich wusste, dass ich, bis ich unmittelbar vor der Haustür stand, mit Caro telefoniert hatte, da sie mich nicht unbeaufsichtigt durch die Dunkelheit laufen lassen wollte. Dann war ich duschen gegangen und anschließend in einen komaartigen Schlaf gefallen.

Oder so ähnlich. Genaueres wusste ich nicht mehr.

Ich wusste nur, dass ich sterben wollte.

Und ich hasste mich dafür, dass ich die Handynummer verbrannt hatte. Harrys Handynummer.

Naja, aber andererseits war ich eigentlich doch eher froh als traurig über mein kleines Spielchen mit dem Feuer. Ich meine, was hätte sie mir denn gebracht? Er hatte das Country-Blondchen geküsst, damit waren die „Fronten"  geklärt und die Handynummer war einfach nur noch überflüssig. Also hatte ich eigentlich keinen Fehler begangen.

Ich hielt die Augen immer noch geschlossen, aber ich spürte, wie die Tränen unter meinen Augenlidern hervorquollen und meine Schläfen hinunter bis in meine Haare liefen.

Ich seufzte.

Hallo Harry-Tränen, dachte ich und hieß sie schon fast schmerzlich sehnsüchtig willkommen. Sie erinnerten mich daran, was passiert war. Und obwohl es so schrecklich war, wollte ich nicht loslassen. Wie eine Drogensüchtige, die wusste, dass die Droge schlecht für sie war, aber trotzdem nicht im Stande war, ihr zu widerstehen.

Ich zog mir die Decke noch höher hinauf, sodass nur noch meine Augen und meine Haare vom Sonnenlicht angestrahlt wurden, das durch die kleine Lücke in den Vorhängen fiel. Meine Augenlider färbten sich rot von innen.

Ich genoss die Stille. Nach diesem megalangen Abend-Schrägstrich-Nacht würde ich erst einmal für weitere zwei Stunden hier liegen bleiben und mich entspannen. Sofern das eben möglich war mit einem gebrochenen, zerfetzten Herzen und einem Paar Augen, aus denen das Wasser herausfloss, als gäbe es kein Ufer mehr.

Plötzlich flog meine Zimmertür auf und ich zuckte heftig zusammen.

Hm ja, so viel zu der idyllischen Ruhe in meinem Zimmer.

„SAM BIST DU WACH SAM SAM SAM DU MUSST WACH SEIN SAAAAAAM!!!"

Stöhnend zog ich mir jetzt die Decke endgültig über den Kopf. Leider wurde sie mir aber im nächsten Moment wieder weggerissen und ich blickte in die aufgeregten Augen meiner Lieblingscousine (ich habe übrigens nur eine Cousine), die rittlings auf meinem Bauch saß.

„Hi", sagte ich mit rauer Stimme und legte mir ein Kissen über das Gesicht. Natürlich versuchte sie eine halbe Sekunde später, mir das Ding wegzureißen, aber ich hatte damit gerechnet und drückte es mir umso fester aufs Gesicht, was meiner Nase ein kleines Knacksen entlockte.

Autsch. ... Naja, mit meinem seelischen Schmerz verglichen war das nichts gewesen.

„SAM DU HAST MIR NICHT GESCHRIEBEN WIE ES WAR ICH PLATZE BALD ICH WEISS NICHTS UND ICH WARTE SCHON EWIG UND ICH KRIEG DIE KRISE SAM MANN DAS IST SO UNFAIR JETZT ERZÄHL SAAAM!"

Von Satzzeichen und Luftholen hatte die Kleine auch noch nie etwas gehört.

... oh Mist, ich packte schon wieder meinen Galgenhumor aus, das war kein gutes Zeichen...

„Sorry, ich konnte sie immerhin bis jetzt aufhalten, in dein Zimmer zu stürzen und dich zu wecken", ertönte von der Tür aus Leos Stimme und ich grummelte als Antwort.

War ja klar. Jana war schon seit Stunden hier und saß wie auf heißen Kohlen, weil sie unbedingt wissen wollte, was letzte Nacht noch passiert ist.

„Aber jetzt habe ich ihr erlaubt, reinzukommen", fuhr Leo fort und ich nahm das Kissen immer noch nicht von meinem Gesicht, „weil Mom und ich nämlich genauso neugierig sind wie Jana, was heute Nacht noch alles passiert ist."

Jetzt wurde es mir doch zu bunt und ich riss das Kissen weg, sodass Jana das Gleichgewicht verlor und von meinem Bett fiel. Sie landete unsanft auf dem Boden und starrte mich dann so verdattert an, dass ich so sehr lachen musste, dass ich keine Luft mehr bekam.

„Okay, das hört sich eindeutig so an, als wäre nichts Gutes passiert", analysierte Leo meinen irren Lachanfall, der lässig im Türrahmen lehnte, und musterte mein Gesicht, auf dem man bestimmt noch die Tränenspuren sehen konnte.

~~~

„Krass...", sagte Jana zum ungefähr fünfzehnten Mal und rührte in ihrem warmen Kakao rum, der wahrscheinlich schon wieder eiskalt war, weil sie in den letzten zehn Minuten keinen Schluck getrunken hatte.

Ich zuckte nur mit den Schultern als Antwort. Ich hatte alles gesagt, was ich sagen wollte. Jetzt saß ich hier und wurde von drei mitfühlenden Augenpaaren angestarrt.

„Jetzt guckt nicht so, ich kann doch auch nichts machen!", rief ich verzweifelt und warf die Arme in die Luft. Sofort kamen mir wieder die Tränen, aber ich versuchte hartnäckig, sie herunterzuschlucken. Ich würde heute nicht mehr weinen. Nein. Heute nicht mehr. Morgen wieder, von mir aus. Aber ich hatte heute Nacht schon genug Tränen vergossen.

Seit ich diesen blöden Megastar kennen gelernt habe, hab ich mich in einen Zimmerspringbrunnen entwickelt. Normalerweise weinte ich selten (eigentlich nur bei Filmen und Büchern), aber Harry wühlte mich emotional so auf und machte mich so fertig, dass ich irgendwie nicht anders konnte.

„Stimmt, kannst du auch nicht...", bestätigte Jana niedergeschlagen und sah mich mit ihren Welpenaugen an. „Das Problem ist auch, dass sie heute Abend nach Australien fliegen..."

„Das juckt mich herzlich wenig", gab ich bissig zurück und biss die Kiefer aufeinander. Sollte er doch dorthin fliegen, wo der Pfeffer wächst. Oder wo blonde Country-Sternchen ihre hässlichen Country-Gitarren kauften. Oder anbauten. Keine Ahnung, wie man so gruselige Dinger produzierte.

„... und der Ersatztermin für das Konzert ist nächsten Samstag", fuhr Jana unbeirrt fort, als hätte sie meinen Kommentar gar nicht gehört.

„Ersatztermin?", fragte ich ziemlich blöd und versuchte mich zu erinnern, wieso zur Hölle sie einen Ersatztermin brauchten.

Jana verdrehte natürlich sofort die Augen. „Oh man, Sam, das Konzert ist doch ausgefallen, weil dieser verrückte Kerl mit der Pistole in der Olympiahalle unterwegs war! Wir waren live dabei, kannst du dich erinnern?"

Ach ja, da war was, jetzt, wo sie es sagte...

Himmel, jetzt ordne deine Gehirnzellen mal wieder, Samantha, das war ja der reinste Matsch in meiner Birne da oben!

„Hm... stimmt..." Nachdenklich schob ich meine Tasse auf dem Tisch hin und her.

Ich starrte ins Leere und dachte für einen Moment an rein gar nichts.

Dann sah ich auf und blickte Jana direkt in die Augen.

„Jana... kannst du mir einen Gefallen tun? Ich habe da etwas, was ich gerne machen würde..."

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt