#77 - Schmerz.

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BUMM.

Es entstand eine gähnende Leere in meinem Kopf.

Ich sah nichts mehr, ich fühlte nichts mehr – ich wollte nur noch sterben.

Ich keuchte schockiert auf und klammerte mich mit eiskalten Fingern an der Arbeitsplatte der Bar fest. Ich hielt mich gerade noch auf den Beinen, denn eigentlich gaben meine Knie unter mir nach.

Ich riss den Blick von diesem Anblick los und drehte mich um. Mein Magen verknotete sich und ich starrte mit weit aufgerissenen Augen vor mich an die Wand. Ich atmete keuchend und sehr flach. Ich beugte mich ein wenig nach vorne,  doch das verminderte den Schmerz, der rasend schnell durch meine Adern schoss und in jede Zelle meines Körpers drang, kein bisschen. Im Gegenteil, er wuchs von Sekunde zu Sekunde und ich war ihm hilflos ausgeliefert.

Mein Unterbewusstsein wunderte sich gerade, dass ich noch gar nicht weinte, aber ich ignorierte es. Ich war zu geschockt. Ich konnte es nicht fassen.

Nach ein paar Sekunden löste sich die Starre in meinen Muskeln und ich drehte mich zu Mike um, der hier inoffiziell der Chef der Bar war.

„Kann ich kurz aufs Klo und an die frische Luft gehen? Mir ist ein wenig schwindelig", sagte ich und fühlte mich dabei mir selber fremd. Mein Mund bewegte sich und sprach, als wäre nichts passiert, aber ich selber war nicht hier. Mein Körper erledigte das alles ohne mich.

Mike nickte lächelnd und ich löste mich von der Arbeitsplatte und lief – weiterhin wie mechanisch – durch die Hintertür, dann den Gang entlang und in den Backroom.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, sackte ich auch schon in mich zusammen. Ich rutschte mit dem Rücken an der Wand herunter und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich schluchzte herzzerreißend auf und wäre am liebsten gestorben.

Wieder und wieder spielte mein Hirn die Szene vor meinem inneren Auge ab, als würde jemand in meinem Kopf das Video immer wieder zurückspulen, um mich damit zu quälen.

Ich ließ die Stirn auf meine Knie sinken, die ich an meine Brust gezogen hatte, und presste die Hände auf meinen Mund, um meinen Schrei zu dämpfen.

Mein Blickfeld wurde jetzt übersät von Sternchen. Ich wusste, dass ich kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.

Nein, nein, nein, Sam, bleib wach! Nicht ohnmächtig werden!

Tief durchatmen. Komm schon.

Ich holte tief Luft (was mir natürlich misslang, da ich immer noch wie ein Wasserfall weinte und schluchzte).

Ich drückte meine Hände jetzt auf mein Herz und schloss die Augen. Es tat so weh.

Ich fasste es das erste Mal in Worte.

Es tat unendlich weh.

Er hatte... er hatte...... er.... - ich konnte es gar nicht aussprechen. Ich konnte es nicht sagen.

Mein Herz schlug tapfer weiter, aber eigentlich wäre es mir am liebsten, wenn es aufhören würde zu schlagen. Ich konnte nicht mehr. Ich war am Ende. Ich hatte so viel Schmerz erlebt. Und das hatte jetzt alles noch gesteigert.

Seit wann lief wieder was zwischen den beiden?

Ich wusste gar nichts davon. Jana hatte auch nie was erwähnt.

Ich atmete nochmal zitternd ein und wischte mir über die Wangen. Ich spürte, wie etwas Raues knisternd über mein Gesicht fuhr und ich kapierte jetzt erst, dass ich den Zettel, den Louis mir in die Hand gedrückt hatte, immer noch bei mir hatte.

Ich betrachtete ihn für den Bruchteil einer Sekunde und wusste nicht, was ich mit ihm machen sollte.

Kurzerhand stopfte ich ihn mir in den Ausschnitt. Ich hatte jetzt keinen Kopf, über diesen Fetzen nachzudenken, und ich wollte nichts Unüberlegtes machen. Ich war dafür bekannt, dass ich normalerweise mit Hirn handelte. Also würde ich das auf später verschieben.

Ich wunderte mich gerade über mich selber. Irgendwie war ich ganz schön gefasst dafür, dass ich gerade gesehen hatte, dass Harry und Taylor sich......

Fuck.

Meine Tränen liefen mir jetzt noch schneller über die Wangen und raubten mir jetzt komplett die Sicht. Meine Lunge drohte, sich zu verschließen und den Dienst zu verweigern, weil ich vor lauter Schluchzen kaum noch atmen konnte.

Luft holen, Sam.

Wie konnte er nur...?

Ich verstand die Welt nicht mehr.

Dafür hatte sich jetzt alles bestätigt, was ich jemals gedacht hatte. Er war ein Superstar, und die waren alle gefühlskalt. Sie interessierten sich für niemand anderen als für sich selber. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Ich hatte es gewusst und ich bin trotzdem so blöd gewesen. Ich hätte mich niemals auf ihn einlassen sollen.

Ich seufzte auf und schloss wieder die Augen. Leider konnte das meine Tränen auch nicht aufhalten.

Plötzlich ging neben mir die Tür auf und ich zuckte heftig zusammen.

„Sammy?"

Im nächsten Moment wurde ich hoch- und in eine feste Umarmung gezogen. Ich roch das wunderbare Parfüm, das Papa und ich letztes Weihnachten zusammen gekauft hatten, und ich klammerte mich verzweifelt an Mom.

„Schatz, ganz ruhig...", flüsterte sie in meine Haare. „Ich stand ein paar Meter von deiner Bar entfernt, ich hab's gesehen..."

Ich schluchzte nur noch mehr und Mom strich mir beruhigend über den Rücken.

„Möchtest du nach Hause gehen?", fragte sie mich und löste meine Arme von ihrem Hals. Besorgt sah sie mich an.

„Nein." Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Die anderen brauchen mich."

Ich hatte nicht vor, wegzulaufen. Das war nicht mein Stil.

„Bist du dir sicher? Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist..."

„Doch", widersprach ich ihr. „Ich muss mich nur wieder ein wenig herrichten, dann kann ich weiterarbeiten."

Mom öffnete den Mund, um zu protestieren, aber ihr Handy meldete sich zu Wort. Sie las kurz die Nachricht und sagte dann: „Ich muss wieder los. Ich weiß wirklich nicht, ob du wieder reingehen sol..." – „Ich werde es tun, du kannst mich nicht aufhalten, Mom", sagte ich grinsend. Es fühlte sich falsch an, wie ich meine Mundwinkel schmerzhaft nach oben zog.

„Na gut", gab sie sich geschlagen und drückte mir einen schnellen Kuss auf die Stirn, bevor sie wieder verschwand. In der Tür drehte sie sich nochmal um und sagte: „Ich hab dich lieb, Schatz."

Ich winkte ihr kurz und atmete dann tief durch.

Wieso konnten meine Tränen nicht aufhören zu laufen und mein Herz nicht aufhören zu bluten?

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt