#47 - Kapier's endlich, Sam...

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Ich schloss die Fahrertür mit einem Ruck hinter mir und ich sah im Augenwinkel, wie Nico zusammenzuckte und die Augen mühsam öffnete. Ich hatte ihn wohl bei einem kleinen Nickerchen gestört. Geschieht dir recht, dachte ich bitter.

Ich drehte mich zu ihm und sah ihn forsch an. Er konnte kaum die Augen offen halten, dafür sah ich ihm aber an, dass er einigermaßen wieder nüchtern war. Die frische Luft, die Schaukeltour bis zu meinem Auto über der Schulter seines Kumpels und die Autofahrt hatten ihn wohl etwas ausgenüchtert.

Ich hätte mir am liebsten selber eine Ohrfeige dafür gegeben, dass ich immer noch innerhalb einer Sekunde erkennen konnte, in was für einer Verfassung er war. Selbst nach dem einen Jahr, das er in Texas verbracht hatte.

Und genau das tat mir so weh. Das ich immer noch wusste, wie er tickte, und dass er sich irgendwie doch kein Stück verändert hatte, obwohl ich das Gefühl hatte, ich würde ihn nicht mehr kennen.

„Ach, Babe..", seufzte er und begann, sich zu mir rüber zu lehnen.

Paaaam, da landete meine Hand das zweite Mal in dieser Nacht an seiner Wange.

„Komm mir keinen Millimeter näher", warnte ich ihn zischend und funkelte ihn böse an. Ich sah bestimmt aus wie eine verrückte Hexe, mit meinen strahlend grünen Katzenaugen und dem verwuschelten Dutt, aus dem sich schon die einzelnen schwarzen Locken lösten.

Er sah mich ziemlich bedröppelt und dumm an und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Ich zog die Mundwinkel ein und fuhr los.

Ich betete, dass die Fahrt bis zu seinem Zuhause hoffentlich schweigend verlaufen würde.

Wie kann man sich nur so krass vollaufen lassen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Harry das tun würde...

... und damit waren meine Gedanken wieder in dem gefährlichen Mienengebiet angekommen, von dem ich sie mühsam in letzter Zeit fern gehalten hatte. Nico hielt Gott sei Dank seine blöde Klappe, sodass ich durch nichts gestört wurde und ungestört an Harry denken konnte.

In achtundvierzig Stunden waren die EMAs wieder vorbei. Was an dem Abend wohl alles passiert?

Ich wusste, dass ich ihn vergessen musste. Ich gab mir ja auch Mühe, ehrlich! Aber jedes Mal, wenn ich sein Gesicht irgendwo sah (und die Jungs hingen ja wirklich überall. An jeder beschissenen Litfaßsäule, in jedem Kino, in jeder S- und U-Bahn-Station.), begann mein Herz wieder, wie verrückt zu klopfen und mein Magen fuhr Achterbahn. Ich hatte sowas noch nie erlebt. Ich hatte noch nie so wahnsinnige Gefühle empfunden, nicht einmal, als Nico und ich uns das erste Mal geküsst hatten. Wie gesagt, meine (inzwischen nicht mehr vorhandenen) Gefühle für Nico und die für Harry waren verglichen ungefähr ein Komposthaufen und der Mount Everest.

Scheiße, wie soll ich jemals über ihn hinwegkommen?!

Ich starrte auf die Straße, ohne wirklich hinzusehen, und meine Hände klammerten sich haltsuchend an das Lenkrad.

Ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht anfing, zu weinen. Nicht vor Nico. Niemals. Da würde ich lieber sterben.

Ich hatte keine Ahnung, was ich übermorgen machen sollte. Ich musste mir langsam mal einen Plan überlegen. Was, wenn er herkommt und mich fragt, wieso ich nicht da war an unserem Treffpunkt? Soll ich dann antworten, dass ich ihn gesucht und aber nicht gefunden habe, und soll ich ihn dann anklagen, dass er den Tweet gelöscht hat? Oder soll ich lieber weggehen und nichts sagen? Oder soll ich ihn nur anlächeln und sagen, dass ich jetzt arbeiten muss und für solche Fragen keine Zeit habe?

Egal, was ich davon tun würde, es würde alles tierisch wehtun. Mir würden wahrscheinlich wieder die altbekannten Harry-Tränen die Wangen runterlaufen, ohne dass ich das überhaupt wollte oder sie aufhalten konnte.

Ich war ihm hilflos ausgeliefert.

Ich war den EMAs hilflos ausgeliefert.

Shit!

Er erschien wieder vor meinem inneren Auge, wie er mich angesehen hat, als wir uns das erste Mal gegenüber gestanden hatten. Wie er mich aufgefangen hatte, als er mich umgerannt hatte, und wie er mich danach erst einmal nicht mehr losgelassen hatte. – Was hatte er damals da unten eigentlich gemacht?? Das wusste ich irgendwie bis heute nicht.

Muss ich ihn irgendwann mal fragen, dachte ich unwillkürlich und hätte mir am liebsten gegen den Kopf gehauen, damit dieser Gedanke verschwinden würde.

Ich. Werde. Ihn. Nie. Wieder. Treffen.

Krieg's endlich in deinen Kopf rein, Sam...

Gerade rechtzeitig wachte ich wieder aus meinen Gedanken auf und bog in Nicos Straße ein, die ich beinahe verpasst hätte.

„Hey, wir sind da", sagte ich schroff und extra laut, damit er aus seinem Besoffenenschlummer aufwachte, und hielt ein paar Sekunden später vor der Garage seines Vaters.

Nico hatte die Augen zwar halb geöffnet, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Ich stöhnte innerlich auf und verdrehte die Augen. Ich kannte das. Das war das typische Phänomen, dass Betrunkene in einer bestimmten Phase nicht mehr Herr über ihre Muskeln waren und sie sich deswegen nicht mehr rühren konnten – beziehungsweise zu ihrer eigenen Haustür gehen konnten und ihre Exfreundin endlich nach Hause fahren und in ihr Bett kriechen konnte.

Ich löste meinen Gurt und stieg aus. Missmutig ging ich um das Auto herum, öffnete die Beifahrertür und sah ihn mit verschränkten Armen an.

„Wird's bald??!" Ich zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

Er rührte sich immer noch nicht, sondern sah mich nur aus seinen Welpenaugen mit glasigem Blick an.

Ich stöhnte genervt auf und zog an seinem Arm. Endlich löste sich seine Starre und er stand schwerfällig auf.

Na geeeeeht doch.

Doch kaum war er aus dem Auto raus, ließ er sich auch schon auf mich drauffallen. Ich fing ihn grade noch mit letzter Kraft auf. Ich war wirklich am Ende, ich hatte ihn heute schon durch den ganzen Club geschleppt, außerdem hatte ich ein langes Tanz-Training und einen Mega-Auftritt hinter mir. Ich wollte ins Bett und schlafen. Und zwar sofort. Da passte ein betrunkener Exfreund nicht in meinen Plan, also sollte er sich schleunigst schleichen.

Ich merkte genau, dass er eigentlich in der Lage war, selber zu laufen. Aber es war ja klar, dass er das mit Absicht machte.

Hauptsache viel Körperkontakt.

Mühsam schleifte ich ihn zur Haustür durch den Vorgarten.

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt