#128 - Er

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Ich stützte mich unwillkürlich mit der Hand an der Wand ab und schnappte nach Luft. Meine Knie sackten ein wenig ein, aber ich konnte mich gerade noch auf den Beinen halten. Meine Pulsfrequenz schnellte nach oben in den lebensgefährdenden Bereich und mein Blickfeld wurde am Rand schwarz.

Er saß da.

Auf Papas cremefarbener Couch.

Er war wirklich hier.

Hier. Bei mir. In New York.

Hier.

Ich sah ihn einfach nur an und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Mir fiel auch kein einziges Wort ein, wenn ich ehrlich war. Mein Hirn war wie leer gepustet. Als hätte ein Staubsauger meine vorhandenen Gehirnzellen aufgesaugt und zermalmte sie jetzt genüsslich in seinem zerknitterten Staubbeutel.

Er erwiderte meinen Blick unbewegt. Man hätte ihn auch für eine Kunstskulptur halten können. So schön und so starr.

„Was machst du hier?!", bekam ich dann doch heraus und musste all meine Kraft aufbringen, um aufrecht stehen zu bleiben.

Ich starb innerlich gerade. Alles in mir schrie danach, mich in seine Arme zu werfen – und gleichzeitig schrie alles in mir danach, wegzulaufen, weit, weit weg von ihm, sodass er mich nie wieder verletzen konnte.

Ich stand immer noch keuchend und zitternd da, als er sich erhob und einen Schritt auf mich zukam.

„Hey", sagte er sanft und fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schlug für einen Augenblick die Augen nieder, bevor er den Blick wieder hob und mir wieder in die Augen sah. Er wirkte ein wenig verlegen. „Ähm... ich finde es komisch, dass du gar nicht weißt, dass ich hier bin..."

„Woher soll ich das bitteschön wissen?! Ich kann nicht hellsehen und es klebte auch kein Zettel an der Tür: ‚Achtung, Superstar-Alarm!!'!"

Okay, ich hatte meine Sprache wiedergefunden.

Und meinen Sarkasmus.

Halleluja.

Ohne ihn war ich ganz schön verloren!

Und ohne ihn war Sam auch nicht Sam.

„Hat niemand von deiner Familie angerufen?", fragte er.

Ich konnte es gar nicht glauben, dass wir uns hier allen Ernstes gegenüberstanden und ich noch nicht rumschrie oder ähnliches machte. Aber wartet nur, das kommt ganz sicher noch.

„Nein", gab ich perplex zurück und biss dann die Zähne aufeinander, als mich die Erkenntnis wie ein Keulenschlag im Gesicht traf.

Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt.

Ich hatte mein Handy ausgeschaltet.

Und ich hatte mich heute Morgen über das ständig klingelnde Telefon geärgert.

Klar, das war einer von meiner Familie gewesen, um mich zu warnen, dass Harry kam...

„Woher weißt du, wo mein Vater wohnt?! Und wie kommst du hier rein?!", fragte ich mit zusammen gekniffenen Augen und musterte ihn jetzt das erste Mal von oben bis unten.

Er sah aus wie immer.

Schwarze Jeans, ausgetretene Stiefel, schwarzes T-Shirt.

Also verboten gut aus wie immer.

„Hiermit", antwortete er und zog einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Ich bin zu deiner Mutter ins Büro gefahren, kaum dass ich in München angekommen war. Du bist ja nicht an dein Handy gegangen, also hab ich das einzige gemacht, was mir eingefallen ist. Dort war auch gerade deine Cousine und die hab ich dann ... naja... mehr oder weniger erpresst." Er grinste mich ein wenig teuflisch an und präsentierte mir seine Grübchen, aber ich verzog keine Miene. Mein finsterer Blick änderte sich nicht.

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt