#29 - Harry-Tränen

85.3K 3.7K 163
                                    

Ich lag eine gefühlte Ewigkeit bei Caro auf dem Bett, bis ich überhaupt ein Wort von mir geben konnte.

Jetzt im Nachhinein musste ich echt zugeben – ich wäre an Caros Stelle schreiend davongelaufen.

Ich war wirklich gruselig. Der reinste Zombie.

Ich bin vollkommen durchgedreht. Ich habe gewechselt zwischen Weinen und Lachen wie ein Wasserhahn zwischen kaltem und warmen Wasser wechseln kann. Ungelogen. In einem Moment habe ich noch geweint, habe mir die Hände gegen das Brustbein gedrückt, weil ich mich der Schmerz von innen aufgefressen hat und ich keine Luft mehr bekam. Im nächsten Augenblick ließ ich die Hände sinken, meine Tränen stoppten ihren Fluss, als hätte ihnen jemand das Wasser abgedreht, und ich begann, über mich selber zu lachen – bis ich fünfzehn Sekunden später wieder in mich zusammensackte und wieder anfing, bitterlich zu weinen.

Caro ließ das alles stumm über sich ergehen.

Irgendwann blieb ich rückwärts auf ihrem Bett liegen und bewegte mich nicht mehr. Ich hatte die Augen geschlossen, damit meine Tränen drinnen blieben. So fing ich an zu sprechen. Mit leiser, monotoner Stimme erzählte ich ihr, was passiert war.

„... dann bin ich in einer Seitenstraße stehen geblieben, weil ich vor lauter Tränen nichts gesehen habe, und habe dich angerufen", schloss ich meine Erzählung. Ich rührte mich immer noch nicht. Am liebsten würde ich hier liegen bleiben, bis ich sterben würde. Dann wäre ich endlich von meinem Leid und diesem saublöden herzensbrecherischen Superstar erlöst.

Naja, wahrscheinlich würde der Schmerz im Jenseits weitergehen, so krass wie er war...

Caro zog mich am Arm. Sie wollte, dass ich mich aufsetzte, aber ich machte mich extra schwer, damit ich liegen bleiben konnte. Doch nicht mit Caro. Sie grub ihre Hände unter meine Taille in die Bettdecke und zog mich so nach oben, wo ich schwach und hilflos in ihren Armen zu liegen kam.

Zack, und da waren die Tränen wieder.

Die verdammten Harry-Tränen.

„Schhh, beruhig dich, Maus", flüsterte Caro mir ins Ohr und hielt mich fest umschlossen. Nach ein paar Minuten fühlte ich mich so leer, dass ich nicht mehr weinte.

„Scheiß Harry-Tränen", brummte ich heiser. Caro sah mich fragend an.

„Ich habe sie Harry-Tränen getauft", erklärte ich ihr. „Die sind anders als normale Tränen. Sie fühlen sich an, als würden sie eine brennende Spur auf meiner Seele hinterlassen, jedes Mal wenn sie meine Wangen herunterrollen." Ich fand, das war ein sehr schöner Vergleich, und traf die Wahrheit genau ins Schwarze.

„Ich fahr jetzt heim", verkündete ich ihr nach ein paar Minuten. „Danke für alles, Caro. Du bist die Beste."

An der Tür umarmte sie mich nochmal und befahl mir ausdrücklich, dass ich schreiben sollte, wenn ich zuhause war. Wieso sie das extra sagte, wusste ich nicht genau, schließlich war es bei uns Gang und Gebe, dass man Bescheid sagte, wenn man heil irgendwo angekommen war, damit die andere sich keine Sorgen machen musste.

Als ich in mein Auto stieg und mein Handy ansteckte und auf Play drückte, kam natürlich sofort seine Stimme aus dem Lautsprecher, denn das Lied, das ich gestoppt hatte, als ich am Parkplatz vorhin angekommen war, war natürlich ein One Direction Song gewesen.

Same Mistakes, um genauer zu sein.

Ich fauchte und riss mein Handy von dem AUX-Kabel, sodass ich ihn und seine blöde Engelsstimme abrupt zum Schweigen brachte.

Same Mistakes. Jaaa, ich machte auch immer den gleichen Fehler, suchte nach ihm und dachte dazu noch, er würde es ernst meinen. Ich schnaubte. Manchmal bist du so dumm, Sam.

Ich wischte über mein Handy und wählte einen anderen Song aus, den ich dann in Dauerschleife abspielte.

DNA von Little Mix.

It's in his DNA

And he just takes my breath away.

Ich gab wieder ein wütendes Geräusch von mir, aber ich machte diesmal nichts, sondern ließ Jade, Perrie, Jesy und Leigh weitersingen, schließlich hatten sie Recht. Und wahrscheinlich würde ich jetzt jedes Lied auf meine Situation beziehen, also war es auch schon egal, welches Lied mich durch die Lautsprecher quälte.

Endlich kam ich zu Hause an.

Als ich gerade ausstieg, klingelte mein Handy.

Best Song Ever.

„Ach du heilige Kacke!", fluchte ich und fuhr mit dem Finger über Abheben.

Eigentlich war ich jetzt nicht in der Lage, den Abend noch einmal aufzurollen, aber wir reden hier von meiner Cousine, die eigentlich eher meine kleine Schwester war, also habe ich es natürlich trotzdem gemacht.

Ich ließ mich auf die kleine Bank, die bei uns im Vorgarten stand, sinken und erzählte ihr mit der gleichen monotonen Stimme, mit der ich Caro auch alles erzählt hatte, was mir auf dem Olympiagelände widerfahren war.

Als ich fertig war, sagte sie keinen Ton.

„Jana, bist du noch dran?", fragte ich. Ich konnte einen leisen Schluchzer hören.

„Oh Gott, hör auf zu weinen, sonst fange ich auch wieder an und ich habe gerade erst mühevoll geschafft aufzuhören!", stöhnte ich und fuhr mir mit der Hand durch meine verhedderten Locken. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah. Bestimmt könnte man mich so direkt in eine Geisterbahn stecken. Aufgeplusterte schwarze Haare, verschmierte Schminke im ganzen Gesicht, gerötete Augen und schneeweiße Haut.

Ich telefonierte noch ein bisschen mit Jana. Ich war niemand, der sich nach Mitleid sehnte, aber es tat gut, dass Caro und Jana mir so beistanden und mir Trost spendeten.

Irgendwann wimmelte ich sie vorsichtig ab. Ich wollte reingehen und mich in meinem Bett verkriechen, damit ich weitere, schmerzende Harry-Tränen weinen konnte.

Doch daraus wurde erst einmal nichts. Als ich nämlich zur Tür hineinkam, hatte ich mich innerlich eigentlich schon darauf eingestellt, dass ich alles noch ein drittes Mal für Mom erzählen musste. Aber da kam es ganz anders. Meine Mutter saß nämlich in der Küche auf einem der Barhocker und starrte mit leerem Blick, angespanntem Gesicht und nachdenklicher Miene vor sich auf die Tischplatte.

„Hi Mom", sagte ich leise, um sie nicht zu erschrecken, „was ist los?"

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt