#55 - Möglichkeit 1, 2, 3, 4,..12,..49,..153,...

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„Was mache ich denn morgen??" Verzweifelt ließ ich mich vorwärts auf mein Bett plumpsen und landete schmerzhaft mit der Nase auf der Matratze. Autsch.

„Hmm...", machte Caro und ließ sich neben mir nieder, als ich mich herumwälzte und auf dem Rücken liegen blieb.

„Es gibt mehrere Möglichkeiten", fing ich an und Caro hakte gleich nach: „Ach ja, und welche?" Sie klang ein wenig skeptisch und das konnte ich ihr nicht verübeln.

Ich richtete mich auf und setzte mich ihr im Schneidersitz gegenüber.

„Erst einmal muss ich wissen, was ich glaube. Ob er mich wirklich abgeschrieben hat und ich nur ein kleines Spielchen für ihn war, oder ob er es ernst meint. – Und dann gibt es eben mehrere Möglichkeiten." Ich strich mir eine Locke hinters Ohr und sah Caro an. „Möglichkeit eins: Ich tue so, als hätte ich ihn noch nie getroffen und mach einen auf höfliche Kellnerin, die mit ihren Gästen nicht mehr redet als dass sie ihnen die Champagnergläser reicht."

Caro rümpfte die Nase. „Wenn du das machst, hast du's dir dann endgültig mit ihm verscherzt."

„Möglichkeit zwei", fuhr ich etwas lauter fort und übertönte ihren Zwischenkommentar vehement, „ich ignoriere ihn und versuchte, dass ich ihm aus dem Weg gehe. Könnte schwer werden, wenn er es darauf anlegt, mit mir zu reden, aber da muss ich mir dann eben irgendetwas einfallen lassen."

Caro zog die Augenbrauen zusammen.

„Ich weiß, die Möglichkeit kommt für mich auch am wenigsten in Frage", sagte ich und gab somit ihrer unausgesprochenen Meinung Recht.

„Möglichkeit drei: Ich tue so, als wäre nie etwas passiert. Ich mache einen auf zuckersüße Bedienung, rede ein wenig mit den Jungs, falls es dazu kommen sollte, aber tue so, als wäre nie irgendetwas vorgefallen. Also so, als würde ich sie wirklich das erste Mal treffen."

„Hört sich schon besser an", meinte Caro, aber klang trotzdem nicht so ganz überzeugt.

„Möglichkeit vier: Wenn er versucht mit mir zu reden, sag ich ihm knallhart ins Gesicht, dass er sich verziehen soll, weil ich mich nicht von ihm verarschen lasse. Also: Direktkonfrontation."

„Genau das, was dir eh am besten liegt", kommentierte Caro postwendend und hatte damit ebenfalls mal wieder Recht. „Du kannst hier eigentlich noch siebenundzwanzigtausend Möglichkeiten aufzählen – ich weiß jetzt schon, was passieren wird."

Sie sah mich an und grinste ein wenig. „Dein italienisches Temperament wird mal wieder mit dir durchgehen und du wirst ihm deine Meinung auf höchst unfreundliche Weise geigen. Samantha Ferroni, ich kenne dich und dein Verhalten besser als alles andere auf der Welt. Du wirst dich nicht zurückhalten können, wenn er dir gegenüber steht, das weiß ich. Und du weißt das auch, du willst es dir nur nicht selber eingestehen."

Ich sah sie an und kaute auf meiner Unterlippe herum.

„Ne, daran hab ich ehrlich gesagt bisher gar nicht gedacht", sagte ich wahrheitsgemäß und Caro glaubte mir sogar. Wir konnten uns nicht anlügen, die andere merkte das immer sofort.

„Ups, dann hätte ich das wohl besser niemals gesagt", sagte sie matt und strich gedankenverloren durch ihre blonden Haare. Sie sah mich wieder an und seufzte. „Du weißt, dass ich Recht habe."

Ich nickte als Bestätigung leicht und verzog den Mund.

Verdammt. Sie hatte wirklich Recht.

„Ich soll dem dritten Kind in unserem Haushalt übrigens von meiner Mom ausrichten, dass es gerne zum Abendessen bleiben kann", sagte ich, um das Thema zu wechseln.

„Danke, das ist lieb, aber ich muss heim, wir kriegen Besuch von ein paar Nachbarn", seufzte Caro und sah auf die Uhr. Im nächsten Moment sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und stieß einen leisen, schockierten Schrei aus. Ich sah sie verwirrt an, während sie durchs Zimmer wuselte und ihre Sachen in ihre Tasche stopfte.

„Ich muss in ein paar Minuten da sein, meine Mutter kriegt doch nie irgendetwas mit dem Kochen alleine auf die Reihe", erklärte sie atemlos und rauschte aus meinem Zimmer. Schwerfällig stand ich auf und trottete ihr hinterher. Als ich unten an der Haustür ankam, hatte sie sich ihre Stiefel schon übergestreift und kämpfte gerade mit dem linken Ärmel ihrer Jacke. Seufzend griff ich danach und half ihr in die Jacke. Himmel, dieses Mädchen war wirklich ein Wirbelwind.

„Also, wir telefonieren morgen Mittag, bevor du arbeitest", sagte sie und umarmte mich leicht.

„Ay ay, Captain", antwortete ich und lächelte sie leicht an. Sie grinste breit zurück und hastete zu ihrem Auto.

Als sie um die Ecke verschwunden war, schloss ich träge die Tür und schleppte mich wieder nach oben in mein Zimmer. Ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen und zog meinen Laptop unter meinem Bett hervor. Ich fuhr ihn hoch und klickte ein wenig durch Facebook und ähnliches.

Irgendwann landete ich bei YouTube und ehe ich mich versah, hatte ich schon „Harry Styles singing" in die Suchleiste eingetippt. Ich klickte eines der ersten Videos an und drückte auf das Symbol für Vollbild.

Das Bild stellte sofort von alleine HD ein und Harrys grüne Augen sahen mich an. Mein Herz begann zu hüpfen und am liebsten hätte ich mir selber eine Kopfnuss gegeben. Ich blöde Nudel konnte aber auch echt nicht geradeaus denken, sobald er irgendwo auftauchte. Himmel.

Ohne es zu merken, strich ich mit dem Handrücken über meine Wangen. Ich hatte unbemerkt angefangen zu weinen.

Mann, konnte ich denn nie damit aufhören? Ich bin ja zum reinsten Zimmerspringbrunnen geworden! Normalerweise war ich nicht so, aber Harry hatte aus meinem momentanen Leben irgendwie eine Ausnahmesituation gemacht.

Ich verbrachte die nächsten Stunden damit, dass ich von einem Video zum nächsten klickte und damit den Schmerz in meinem Herzen eigentlich nur noch vergrößerte, aber so krank das klingt, ich brauchte das jetzt. Ich konnte von seinen Augen und von seiner Stimme nicht genug kriegen. Geschweige denn von seinem Lächeln.

Mein Handy gab öfter mal einen Ton von sich, aber ich ignorierte es. Ich hatte keinen Bock auf meine überdrehte Lieblingscousine, die wahrscheinlich noch aufgeregter war wegen morgen als ich.

Als ich Geräusche an der Haustür hörte, schälte ich mich schweren Herzens aus meinem Bett und tapste in Richtung Küche, wo ich Mom und Leo fand.

Leo begann, Mom von den Telefonaten zu erzählen, während ich stumm daneben saß und Mom mit glasigen Augen beim Kochen zusah. Ich schaltete ab, ich wollte nicht hören, wie Leo die ganzen schmerzhaften Worte noch einmal wiederholte. Ich wollte eh nicht darüber reden. Es bringt doch eh nichts, ganz ehrlich.

Als wir mit dem Essen fertig waren (das schemenhaft an mir vorbeigezogen war), ging ich sofort ins Bad und machte mich bettfertig. Ich kroch zurück unter meine weiche Decke, schaltete den Flug-Modus bei meinem Handy ein, weil ich meine Ruhe haben wollte, und ließ mich von Harrys Don't Let Me Go in den Schlaf singen.

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt