#81 - Nein. Doch. Nein. Doch! NEIN!!

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Ich schluckte. „Lange Geschichte und so..."

„Ach, ehrlich? Kann ich mir jetzt gaaar nicht vorstellen. ... Fang an. Ich hab Zeit. Schlafen wird eh überbewertet", sagte sie seufzend und ich wusste, dass sie sich jetzt wieder in ihrem Kissen zurücklehnte und mir die nächsten Minuten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken würde.

Ich erzählte ihr alles. Alles, was passiert war, und alles, was ich fühlte – oder auch nicht gefühlt hatte dank der Schranke in mir vor meinen Gefühlen.

Ich redete und redete. Es fühlte sich gar nicht mehr so an, als wäre es wirklich ich, die Caro alles erzählte. Ich hatte das Gefühl, als hätte mein Gehirn sich selbst ausgehebelt und abgeschaltet und meine Zunge wusste von alleine, was sie für Worte zu formen hatte.

Ich stieg schon eine Station früher aus, als ich eigentlich rausmusste. Ich wollte die frische Luft um meine Nase wehen spüren. Ich musste noch ein wenig laufen.

Ich hatte keine Angst im Dunkeln draußen, das hatte ich noch nie, und jetzt war ja eh Caro am anderen Ende der Leitung, sodass ich nicht alleine war.

„...und dann hab ich mich von allen verabschiedet und bin nach Hause gefahren. Und jetzt laufe ich hier", schloss ich meine Erzählung, während ich den dunklen Gehweg entlangschlenderte. Am liebsten würde ich einfach noch stundenlang so weiterlaufen.

„Ja, und der Zettel?!?!?", kam sofort postwendend zurück. Mist. Ich hatte gehofft, dass sie den in dem ganzen Trubel wieder vergessen hatte, denn ich hatte ihn nur in einem kleinen Nebensatz erwähnt.

Aber Caro wäre nicht Caro, wenn sie sich das nicht gemerkt hätte.

Ich zuckte mit den Schultern (was Caro natürlich dooferweise nicht sehen konnte). „Den hab ich nicht gelesen, und den werde ich so, wie er ist, aus meinem BH entfernen und dann wegschmeißen." Ich sah mich um. „Weißt du was? Das mache ich jetzt gleich", beschloss ich kurzerhand und ging auf den Mülleimer zu, der hier am Rand des Bürgersteigs war.

„Nein!!!", rief Caro entsetzt. „Spinnst du?!?"

Ich fischte den Zettel mit zittriger Hand heraus und hielt ihn über den Mülleimer. Da kam mir eine bessere Idee.

„Ich werde ihn verbrennen", informierte ich Caro und suchte in meiner Tasche nach einem Feuerzeug, das ich immer dort drinnen hatte. (Ich war strikte Nichtraucherin, aber ein Feuerzeug brauchte man ja nicht nur zum Zigarettenanzünden.)

Ich klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und hielt den Zettel in der rechten und das Feuerzeug in der linken Hand.

„Samantha, du verdammter Sturkopf, hör auf mit dem Scheiß", sagte Caro überraschend scharf und ich ließ das Feuerzeug wieder zuschnappen, sodass die Flamme ausging, die mir gerade noch ins Gesicht geschienen hatte.

„Wieso?", fragte ich verwirrt, „es interessiert mich nicht, was auf dem Zettel steht. Und es ist auch nicht mehr wichtig."

„Ist es wohl."

„Ähm. Nein."

„Jetzt lies ihn wenigstens vorher."

„Nein."                                  

„Sam!"

„Wozu denn?"

„Jetzt mach!!"

„Nein."

„Sam, falt ihn auseinander und lies!!"

„Nein."

„SAM!!!"

„Caro, nein, ich werde ihn nicht lesen. Ich will es nicht wissen."

„Aber ICH will es wissen, verdammt man!" Sie klang so, als würde sie sich gerade ihre blonden Locken raufen. „Ich will wissen, was Louis geschrieben hat!"

Ich seufzte. „Ich aber nicht, und da ich dieses verdammte Ding in der Hand habe, kann ich entscheiden, was ich damit mache, und nicht du."

„Ich hasse dich."

„Nö, du liebst mich über alles", gab ich unbeeindruckt zurück.

„Nein, das stimmt nicht. Das war bis vor zwei Minuten so. Jetzt nicht mehr."

„Okay. Dann halt nicht mehr."

„Gut."

„Yep."

„Saahaaam, jetzt lies ihn! Mach ihn auf!"

Ich hatte langsam keine Geduld mehr. „Man, Caro, das ist nur ein gottverdammter Zettel!"

Nur ein Zettel?!", echote sie ungläubig. „Nur ein Zettel?! Dieser nureinZettel ist von Louis Tomlinson, Sammy! Von Harrys best buddy! Check's endlich! Lies ihn jetzt!"

„Oh maaaan, du kannst so nervig sein", knurrte ich und ließ das Feuerzeug auf den Deckel des Mülleimers sinken.

Ich pfriemelte das Ding auseinander. Da ich genau unter einer Laterne stand, an dem der Mülleimer befestigt war, konnte ich Louis' Krakelschrift bestens sehen.

Mit genervter Stimme las ich Caro vor, was dort stand.

Hey Sam, da es Harry Vollidiot Styles irgendwie nicht auf die Reihe gekriegt hat, dir seine Handynummer zu geben, muss ich jetzt eben Schicksal spielen und das machen. – Zwinkernder Smiley. – Ich hoffe, du meldest dich bei ihm, beziehungsweise fühl dich gezwungen, dich bei ihm zu melden, Sam! Lachender Smiley. – xx Louis. – Und jetzt steht da ... naja, eine Handynummer halt."

Mein Magen fuhr Achterbahn. Mein Kopf drehte sich und in meinem Bauch veranstalteten die Schmetterlinge einen wilden, feurigen, südamerikanischen Stepptanz.

Da steht eine Handynummer.

Eine Handynummer.

HARRYS HANDYNUMMER.

Ich starrte die kleinen schwarzen Ziffern an und kniff den Mund zusammen.

„So, und jetzt werde ich das Ding verbrennen", sagte ich tonlos nach drei Sekunden und griff nach dem Feuerzeug und klemmte mir gleichzeitig wieder das Handy zwischen Schulter und Ohr.

Ich hörte Caro keuchend einatmen.

„WAS NEIN SHIT SAM NEIN DAS MACHST DU NICHT SPINNST DU WAG ES NICHT DEN ZETTEL ANZUZÜN-"

„Zu spät", sagte ich und hielt den Zettel in die Flamme, der natürlich sofort Feuer fing.

Im nächsten Moment ließ ich ihn langsam auf den Boden sinken und sah zu, wie er verbrannte. Umso länger ich hinsah, umso mehr verschwamm meine Sicht. Ich weinte wieder.

Verdammt, ich weinte wirklich zu viel in den letzten Tagen. Und immer waren es Harry-Tränen. Es wurde Zeit, dass ich ihn vergaß und damit abschloss.

Ich starrte auf die kleine, schwache Flamme auf dem Boden und spürte, wie mich sämtliche Emotionen durchfluteten.

Ich keuchte auf. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende meiner Kräfte.

Die Flamme repräsentierte im Prinzip mein Inneres, das in der letzten Woche auch langsam aber sicher verbrannt war. Ich konnte einfach nicht mehr.

Mit einem entschlossenen Schritt trat ich mit einem stampfenden, wütenden und gleichzeitig verletzten Schritt auf den Zettel und löschte ihn dadurch.

Jetzt war nur noch ein kleines graues Häufchen zu sehen. Ein Häufchen, das mal Harrys Handynummer gewesen ist. Tja. Ich war eben schon immer gut gewesen, im Türen-vor-der-eigenen-Nase-zuknallen. Jetzt war die Harry-Tür eben für immer zu.

„Ich kann's nicht glauben..."

„Sag einfach nichts bitte", unterbrach ich sie durch meine Tränen flüsternd und machte mich auf den Nachhauseweg.

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt